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Es war mitten in der Nacht, als Helene von einem Ziehen im Leib aufwachte. Wilhelm war den November über in Königsberg, wo er wichtige Bauvorhaben besprechen und planen musste. Wieder zog es und der Bauch wurde hart. Helene zündete das Licht an, es war drei Uhr. Mit einem heißen Bad ließ sich noch so manche Geburt aufhalten oder vorantreiben. Helene kochte Wasser und füllte es in den großen Zuber aus Zink, in dem sonst nur Wilhelm hin und wieder ein Bad nahm. Helene stieg in den Zuber und wartete. Die Wehen kamen jetzt häufiger. Sie versuchte zu tasten, aber ihr Arm langte nicht weit genug um den Bauch und die Hand reichte nicht tief genug in die Öffnung, nur das weiche, offene Fleisch konnte sie spüren. Helene zählte die Pausen, alle acht Minuten, alle sieben Minuten, dann wieder alle acht Minuten. Sie goss heißes Wasser nach. Sieben Minuten, siebeneinhalb, sechs Minuten. Die Abstände wurden kürzer. Helene stieg aus dem Zuber und trocknete sich ab. Sie wusste, wo das Krankenhaus war. Oft war sie dort vorbeigegangen, eine falsche Erlaubnis in der Tasche, mit der sie versucht hatte, Wilhelms Schrift nachzuahmen, und hatte sich bewerben wollen. Obwohl Wilhelm ihr gesagt hatte, sie möge sich Gedanken um die Ernährung ihrer Brut machen, war er dagegen, dass sie sich schwanger eine feste Stelle suchte. Früher oder später hätte er es erfahren, womöglich hätte er sie an den Ohren aus dem Krankenhaus geschleift. Er hatte sie einmal am Ohr gezogen, als er wütend gewesen war, dass sie eine Falte in seinem Hemd übersehen hatte. Er hatte ihr Ohr zwischen seine Finger genommen und sie am Ohr aus der Küche ins Schlafzimmer geschleift. Wieder eine Wehe, das Ziehen war jetzt so schmerzhaft, dass Helene sich unmerklich über dem angespannten Bauch krümmte. Sie nahm Carls Unterhemd aus dem Schrank, das nur deshalb so lange von Wilhelm unbemerkt dort liegen konnte, weil Wilhelm es Helene überließ, ihm seine Sachen zum Anziehen rauszulegen. Sie zog Carls Unterhemd über, es spannte am Bauch und rutschte hoch. Atmen musste man, trotz der Wehe, tief atmen. Lange Unterhosen zog sie an, Wehe, den Strumpfhalter, der unter dem Bauch klemmte, Wehe, Strümpfe, Wehe, das Kleid dar über. Ihren Ahnenpass und das Familienbuch durfte sie nicht vergessen, beides nahm sie aus Wilhelms Sekretär. Auch etwas Geld nahm sie. In der Nacht fror es, die Gehwege waren vereist, Helene musste aufpassen, dass sie nicht rutschte, bloß nicht das Gleichgewicht verlieren. Auf der menschenleeren Straße musste Helene alle paar Meter stehen bleiben. Atmen, tief atmen. Was war schon dieser Schmerz, Helene lachte, der Schmerz war endlich, ihr Kind sollte geboren werden, heute, ihre Kleine, ihr kleines Mädchen. Helene ging weiter, blieb wieder stehen. Es schien ihr, als sitze der Kopf der Kleinen schon zwischen ihren Schenkeln, sie konnte kaum noch mit geschlossenen Beinen laufen. Tief atmen und weiter. Breitbeinig stapfte Helene über das Eis.

Im Krankenhaus half ihr eine Hebamme, sie tastete vorsichtig, erst am Bauch, der sofort fest wurde, steinhart, die Wehe dauerte. Und jetzt mit der Hand in die Vagina.

Da ist das Köpfchen.

Das Köpfchen, haben Sie Köpfchen gesagt? Helene musste lachen, sie lachte nervös und ungeduldig.

Die Hebamme nickte. Ja, ich kann schon die Haare spüren.

Die Haare? Helene atmete tief, tief, noch tiefer bis in den Bauch. Sie wusste, wie sie atmen musste, aber die Hebamme sagte es ihr jetzt.

Wollen Sie sich hinlegen, Frau Sehmisch?

Vielleicht. Atmen, atmen, atmen; frei atmen, tief atmen, Atem anhalten und ausatmen.

Wollen Sie Ihren Mann nicht anrufen, damit er sie wenigs tens abholt?

Ich habe doch gesagt, er ist in Königsberg. Tief atmen. Helene fragte sich, wie es wohl für einen Fötus sein mochte, wenn alles um ihn her so fest und steinig wurde. Vielleicht fühlte er noch gar nicht. Wie begann das Sein? War man, wenn man nicht fühlte? Tief geatmet. Ich habe keine Nummer dort. Er kommt Ende des Monats zurück.

Die Hebamme füllte ihre Karteikarte aus.

Verzeihen Sie, mir ist übel.

Es ist gut, wenn Sie noch einmal zur Toilette gehen. Die Hebamme zeigte Helene die Toilette. Helene wusste, dass die Übelkeit ein sicheres Zeichen war, jetzt konnte es nicht mehr lang dauern. Ein bestimmter Nerv wurde gereizt. Nervus Vagus. Sieben Zentimeter Öffnung waren noch drei zu wenig. Die Stimulation des Parasympathicus, was sonst.

Bei ihrer Rückkehr sollte sich Helene auf die Liege legen. Sie sollte es sich bequem machen, aber nichts war bequem. Der Arzt wollte, dass sie auf dem Rücken lag. Die Wehen kamen seltener, nur noch alle vier Minuten, alle fünf, dann wieder häufiger. Helene schwitzte, atmete und presste. Sie wollte sich auf die Seite drehen, sie wollte aufstehen, sie wollte hocken. Die Hebamme hielt sie fest.

Schön liegen bleiben.

Ihr Gefühl für Zeit ging verloren, es war Tag geworden, an die Stelle der Hebamme aus der Nacht war eine andere Hebamme getreten. Ein guter Schmerz, sagte sich Helene, ein guter Schmerz, sie biss die Zähne aufeinander, sie wollte nicht schreien, keinesfalls, ganz bestimmt nicht so laut wie die Frau in dem anderen Bett, die ihr Mädchen schon geboren hatte. Helene presste, es brannte, Tränen standen ihr in den Augen.

Sie müssen atmen, atmen, so atmen Sie doch. Die Stimme der Hebamme klang seltsam verzerrt. Sie atmete ja.

Sie schaffen das, los, los, Sie schaffen das. Jetzt schlug die Hebamme den Ton eines Offiziers an. Helene wünschte, sie wäre nicht in das Krankenhaus gegangen. Sie ertrug diese Schwester und ihren Marschton nicht. Los, los, noch einmal, und ein, halten, halten. Hören Sie nicht? Sie sollen halten, nicht pressen! Jetzt wurde sie auch noch wütend, die Offizierin. Helene kümmerte sich nicht um die Befehle, sie konnte gebären, wie sie wollte, die Offizierin hatte ihr gar nichts zu sagen. Atmen, tief atmen, das war bestimmt gut, und pressen, natürlich, pressen, pressen, pressen. Die Hebamme tastete mit ihren Händen an ihrer Vagina, sie tastete und es kratzte, als wühle sie ihre Nägel in das weiche Fleisch, das aufgeweichte, völlig unbestimmte, in jede Richtung dehnbare Fleisch. Was machte die Offizierin dort nur mit ihren Händen? Es drückte auf den Darm, es drückte so sehr, dass Helene sicher war, die Hebamme könne nichts als Exkremente auffangen, Blut und Fäkalien in die Hände der Offizierin. Keine Zeit für Scham, sie musste atmen.