Jetzt schlug ihr die Offizierin auf den Arm, packte sie. Aufhören, Sie sollen aufhören zu pressen, sonst reißen Sie noch ganz auf.
Helene hörte es und hörte doch nicht hin, sollte sie nur reißen, ihretwegen, ganz auf, ihretwegen, mochte reißen, was reißen musste, sollte reißen, was reißen wollte, es würde schon etwas übrig bleiben, das Kind schon herauskommen. Helene atmete, guter Schmerz, nur warum tat er so weh? Nein, das hätte sie sagen wollen, sie spürte die Zunge an ihrem Gaumen, nnn, sie würde es nicht sagen, nie, niemand sollte sich wundern, niemals.
Atmen Sie! Die Offizierin verlor offenbar die Nerven. Schreien Sie einfach, los, jetzt pressen, ja.
Das Ja war knapp, die Hände der Offizierin schnell, der Arzt rückte etwas zwischen Helenes Schenkeln zurecht, es knirschte. Der Arzt nickte. Da war der Kopf.
Der Kopf? Ist der Kopf draußen? Helene konnte es nicht fassen. Sie spürte etwas Dickes zwischen ihren Beinen, etwas, das nicht zu ihr gehörte, nicht mehr, sie spürte es zum ersten Mal, nicht mehr nur in ihr, der Körper ihres Kindes, an ihr. Der Arzt beachtete sie nicht. Helene tastete mit ihrer Hand nach unten. Sie wollte es anfassen, das Köpfchen. Waren das Haare, die Haare des Kindes?
Hände weg! Helenes Arm wurde fortgerissen, man packte sie am Handgelenk, fest am Handgelenk. Sie sollen atmen, hören Sie? Die Offizierin mischte sich ein. Und bei der nächsten Wehe pressen Sie. Tief Luft holen, holen Sie Luft, jetzt. Helene hätte auch ohne den Befehl der Offizierin Luft holen müssen.
Es glitt hinaus, mit einem Schwung. Die Hebamme fing es geschickt mit ihren Händen auf.
Das Kind war da. Wie sah es aus? War es grau, lebte es? Es wurde sofort weggebracht. Röchelte es nur, hatte es geschrien? Es schrie. Helene hörte ihr Kind schreien und wollte es an sich drücken. Helene wand sich, sie wollte einen Blick erhaschen. Die weißen und braunen Schürzen der Schwestern versperrten ihr die Sicht, lauter Rücken. Es wurde gewaschen, gewogen und angezogen.
Mein Kind, flüsterte Helene. Tränen rannen aus ihren Augen, sie sah die Kittel der Schwestern und der Hebamme. Meine Kleine. Helene war glücklich. Die Hebamme kam zurück und befahl, sie möge noch einmal pressen.
Noch einmal?
Ich denke, Sie sind Krankenschwester.
Aber warum noch einmal, ist da noch eins?
Die Plazenta, Frau Sehmisch. Und jetzt pressen Sie noch einmal richtig. Frau Sehmisch, Helene wusste, sie war gemeint. Helene tat wie ihr befohlen.
Sie musste eine Ewigkeit warten, ehe man ihr das Kind brachte. Dreitausendeinhundertundfünfzig, ein Prachtkerl. Die Säuglingsschwester reichte Helene das kleine Paket. Helene sah sich ihr Kind an, seine Augen waren faltige Schlitze, der Mund noch ganz klein, über der Nase hatte es eine Furche, eine tiefe Furche, und auf der Nase saßen lauter kleine Grießpünktchen. Es weinte. Helene drückte das Kind an sich. Meine Kleine, meine süße Kleine, sagte Helene. Was für schöne lange schwarze Haare sie hatte, wie seidig und wie glatt ihre Haare waren.
Sie müssen das Köpfchen so halten. Die Säuglingsschwester drückte Helenes Hand zurecht. Helene wusste, wie man ein Kind halten sollte, es machte ihr wenig aus, dass die Schwester sie berichtigte, gar nichts. Sollte sie nur ihre Hand kneten und drücken. Nichts und niemand konnte Helenes Glück etwas anhaben.
Wollen Sie ihn stillen?
Helene schaute erstaunt der Schwester ins Gesicht. Ihn?
Ja, Ihren Sohn, ob Sie Ihren Sohn stillen wollen, frage ich.
Es ist ein Sohn? Helene blickte in das kleine graue Gesicht. Ihr Kind öffnete jetzt seinen Mund und schrie. Er wurde dunkelrot. Damit hatte Helene nicht gerechnet. Sie hatte nie an einen Jungen gedacht, immer an ein Mädchen.
Entscheiden Sie sich jetzt, sonst geben wir ihm ein Fläschchen.
Ich stille es, natürlich. Helene öffnete ihr Nachthemd, sie wollte das Kind an ihre Brust legen, aber jetzt fuhr die Offizierin wieder dazwischen.
Hier, so müssen Sie das machen. Grob und mit zwei Fingern fasste die Offizierin Helenes Brust an und stopfte sie dem Kind in den Mund. So, sehen Sie? Sie müssen aufpassen, dass das Kind richtig anliegt. Und ob das mit Ihren Brüsten was wird, na, das werden wir noch sehen.
Helene ahnte sogleich, was die Offizierin meinte. Ihre Brüste waren in den vergangenen Monaten so groß und prall geworden, wie Helene es sich nie erträumt hatte, aber groß war eben nur relativ. Im Verhältnis zu den Brüsten anderer Wöchnerinnen waren sie klein, geradezu winzig, Helene wusste das.
Das Kind an ihrer Brust schluckte und atmete schwer durch die winzige Nase, es hatte sich festgesaugt, es saugte, dass es kribbelte, und saugte, dass es drückte, es saugte um sein Leben. Das Kind öffnete die Augen nicht, es saugte so stark, dass Helene überlegte, ob es wohl schon Zähne hatte.
Name? Jemand war an Helenes Bett getreten. Warum nur war die Offizierin so streng? Sicher, sie hatte viel Arbeit, gewiss gab es Gründe. Womöglich hatte Helene etwas falsch gemacht. Welche Demütigung, als Krankenschwester in einem Krankenhaus zu liegen.
Name?
Sehmisch. Alice Sehmisch.
Nicht Ihren Namen, den haben wir. Wie soll Ihr Sohn heißen?
Helene betrachtete ihr Kind, wie es durch die Nase atmete und an ihrer Brust sog, als wolle es sie aufsaugen, ganz und gar. Was für zarte, schmale Hände er hatte, zierliche Fingerchen, die vielen Falten, die dünne Haut, seine Hand umklammerte ihren Zeigefinger wie einen Ast, als müsse es sich um jeden Preis festhalten. Wie konnte sie ihm einen Namen geben, er gehörte ihr nicht. Welche Anmaßung, einen Namen für ein Kind. Wo sie doch selbst keinen Namen mehr hatte, zumindest nicht mehr den, der ihr für das Leben gegeben worden war. Er konnte sich umbenennen, später, wenn er wollte. Das beruhigte Helene. Und sie sagte: Peter.
Erst als die Schwester weggegangen war, flüsterte sie ihrem Kind zu: Ich bins, deine Mutter. Das Kind blinzelte, es musste niesen. Wie gerne hätte Helene es Martha und Leontine gezeigt. Sah es nicht aus wie ein Mädchen? Goldblatt, flüsterte Helene an seine Wange und streichelte ihm über das weiche, lange Haar.
Vor Weihnachten kam Wilhelm nach Hause. Sie hatten in der Zwischenzeit telegraphiert. Er war nicht überrascht, dass sie niedergekommen war. Ein Junge, Wilhelm nickte, er hatte nichts Geringeres erwartet. Peter? Warum nicht. Sie solle den Jungen mal ordentlich füttern, riet er ihr wenige Stunden nach seiner Ankunft. Das Kind habe Hunger, ob sie das nicht höre? Und warum es in der Wohnung so merkwürdig rieche, ob das die Windeln des Kindes seien, das wollte er wissen und sein Blick fiel auf die gelblich verfärbten Windeln, die zum Trocknen auf der Leine hingen. Was ist, kannst du nicht mehr waschen? Siehst du nicht, dass die Windeln noch dreckig sind?
Sie werden nicht sauberer, sagte Helene und dachte, wenn die Sonne schiene, hätte sie sie im Licht bleichen können. Aber draußen wurde es kaum hell, es schneite seit Wochen.
Als der kleine Junge nachts schrie und Helene aufstand, um ihren Peter zu sich ins Bett zu holen, sagte Wilhelm mit dem Rücken zu ihr: Ich glaube, dir gehts zu gut. Setz dich in die Küche, wenn es sein muss. Ein arbeitender Mann braucht seinen Schlaf.