Helene tat, was er befahl. Sie setzte sich mit ihrem Kind in die kalte Küche und stillte es dort, bis es schlief. Doch sobald sie es in sein Körbchen legen wollte, wachte es auf und weinte. Nach zwei Stunden schlich sie erschöpft in das Schlafzimmer. Aus dem Dunkel kam Wilhelms Stimme. Mach, dass das Kind still ist und nachts schläft, sonst reise ich morgen wieder ab.
Nicht alle Kinder schlafen durch.
Du weißt wohl alles besser, wie? Wilhelm drehte sich zu ihr um und schrie ihr entgegen: Hör mal, Alice, ich lass mir von dir nicht die Welt erklären.
Helene tupfte sich im Dunkel den Sprühnebel seiner Worte vom Gesicht. Hatte ihr jemals daran gelegen, ihm die Welt zu erklären?
Es wird Zeit, dass du arbeitest, sagte er ruhig, als er ihr wieder den Rücken zukehrte. Wir können uns keine Schmarotzer leisten.
Helene blickte zum Fenster, nur ein matter Lichtschein erhellte den Vorhang. Wilhelm begann zu schnarchen, abgehackt und fremd. Wer war dieser Mann in ihrem Bett? Helene sagte sich, dass er vermutlich recht hatte. Vielleicht war sie an das Schreien ihres Kindes schon zu sehr gewöhnt, um zu erkennen, dass es Hunger hatte. Ihm reichte die Milch nicht, es hungerte, gewiss. Gleich am nächsten Morgen musste sie Milch holen. Das arme Kind; wenn es nur schlief. Peterle, flüsterte Helene, die sonst Kosenamen nicht mochte, Peterle. Tonlos bewegte sie die Lippen. Ihre Lider waren schwer.
Als Helene aufwachte, schmerzte ihre linke Brust, die Brust war steinhart und ein roter Fleck breitete sich auf der Haut aus. Sie wusste, was die Symptome bedeuteten. Also ging sie hinüber zum Körbchen, nahm das Peterle heraus, trug es in die Küche und legte es an. Das Peterle schnappte zu, es war, als werde ihr ein Messer in die Brust gerammt, stochernd, bohrend, gleißend, der Schmerz ließ das Denken versiegen. Helene biss die Zähne aufeinander, ihr Gesicht glühte. Das Peterle wollte nicht trinken, immer wieder drehte es den Kopf weg, schnappte nach Luft lieber als nach Milch und spuckte und weinte, es ballte die Fäustchen und krümmte sich.
Was ist hier schon wieder los? Wilhelm stand in der Tür und schaute auf Helene und ihr Kind herab. Kannst du mir verraten, was das soll? Sein empörter Blick blieb an ihrer Brust hängen. Das Kind schreit, Alice, und du sitzt hier, womöglich schon seit Wochen, und lässt es hungern, ja?
Ich lass es nicht schreien. Sollte sie das sagen? Das Peterle brüllte jetzt, sein Kopf war rot und rund um das Näschen zeigte sich ein weißer Abdruck.
Bist du jetzt verstummt? Du wirst das Kind doch nicht verhungern lassen? Hier, Wilhelm reichte ihr einen Schein. Du ziehst dich jetzt auf der Stelle an, gehst Milch kaufen und fütterst es, verstanden?
Helene hatte verstanden. Ihre Brust pochte, der Schmerz war so ungeheuer, dass ihr übel wurde und sie kaum über Wilhelms Anordnung nachdenken konnte. Sie würde machen, was er sagte, natürlich, einfach folgen. Sie legte das Kind auf das Bett und zog sich an. Ohne Wilhelm anzusehen, wickelte Helene eine Decke um ihr Kind, sie nahm das Bündel auf den Arm und lief die Treppen hinunter.
Ihre Augen sind ganz glasig, sagte die Krämerin, haben Sie Fieber, Frau Sehmisch?
Helene bemühte sich um ein Lächeln. Nein, nein.
Sie nahm die Flasche Milch und das Töpfchen Quark und stieg mit dem brüllenden Kind die Treppen hinauf. Auf halber Treppe musste sie stehen bleiben. Ihr Wochenfluss war noch nicht versiegt, der Schmerz in der Brust setzte die Fähigkeit zur Entscheidung außer Gefecht. Sie stellte Milch und Quark ab und legte das Kind in seiner Decke auf die Stufen. Helene ging auf die Toilette. Als sie wieder herauskam, sah sie schon das fröhliche Gesicht der neuen Nachbarin, die ihre Tür geöffnet hatte und den Kopf heraussteckte. Kann ich Ihnen helfen?
Helene schüttelte den Kopf, nein. Sie nahm das Bündel auf den Arm und setzte den Weg die Treppe hinauf fort. Als sie an der Nachbarin vorbeiging, fiel ihr Blick auf das Namensschild. Kozinska. Es war jetzt am leichtesten, sich die nebensächlichen Dinge zu merken. Kozinska, so hieß die neue Nachbarin.
Oben angekommen, hatte Wilhelm schon seinen Mantel an. Er müsse hinaus nach Pölitz fahren, das Werk besichtigen. Sie solle nicht auf ihn warten. Helene legte das Kind in sein Körbchen und erwärmte auf dem Feuer die Milch. Sie füllte die Milch in ein Fläschchen, das bis zu diesem Morgen nur mit Tee gefüllt worden war, packte sich einen Umschlag aus Quark auf die Brust, der kühlte, und fütterte ihr Kind. Am Nachmittag war ihr Körper so schwer und heiß geworden, dass sie kaum noch aufstehen und hinunter auf die halbe Treppe gehen konnte. Das Kind brüllte. Man konnte die Blähungen des Kindes hören, Blähungen, die die Milch und das Schreien verursachten, geschluckte Luft, aber es würde bald satt sein, gewiss, bald würde es satt und zufrieden sein. Helene konnte auf keiner Seite ihres Körpers mehr liegen, die Haut juckte, sie war so dünn, dass Helene das Laken als Reiben und die Luft als unsägliches Kitzeln spürte, sie wollte raus aus ihrer Haut, Helene fror, sie schüttelte sich, Schweiß stand ihr auf der Stirn. Alle Stunde erhob sie sich und ging auf zitternden Beinen, sie machte sich einen neuen Umschlag, sie konnte kaum noch die Tücher und Windeln wringen, so schwach war sie. Das Fieber blieb über Nacht. Helene war froh, dass Wilhelm nicht kam. Sie wollte das Kind an ihre Brust legen, aber das Kind wand sich und schrie und biss auf die harte, heiße Brust. Es schrie empört.
Helene fütterte ihr Kind mit dem Fläschchen. Erst war es empört, spuckte vergorene Brocken Milch, verschluckte sich, die Milch im Fläschchen war noch zu heiß und schon zu kalt, Helene biss die Zähne zusammen. Es würde trinken, ganz sicher, verhungern würde es nicht. Die Entzündung ging zurück, die Brust schwoll ab, und eine Woche später war noch nicht alles gut, nicht völlig, aber ziemlich, mit der Entzündung war die Milch versiegt; Wilhelm glaubte, dass er für Recht und Ordnung gesorgt hatte. Nur die Frage mit ihrer Arbeit wollte er noch geklärt wissen, ehe er Anfang des Jahres nach Frankfurt aufbrechen musste. Wilhelm begleitete Helene zum Städtischen Krankenhaus in den Pommerensdorfer Anlagen.
Ganz bestimmt können wir Ihre Frau einstellen, sagte die Personaldienstleitende zu Wilhelm. Sie wissen, dass wir nicht halb so viele Schwestern motivieren können, wie wir benötigen. Dazu hatten wir gerade eine Entlassung. Eine polnische Schwester, auch noch Mischling zweiten Grades, die sollen ihres gleichen pflegen. Ihr Familienbuch, das Zeugnis, wie schön, dass Sie alles gleich mitgebracht haben. Ein Gesundheitszeugnis kann bei uns im Hause ausgestellt werden. Die Personaldienstleitende sichtete die Unterlagen.
Erst als die Personaldienstleitende Wilhelm und Helene zur Tür brachte, entdeckte sie den vor dem Gebäude an der Kellertreppe abgestellten Kinderwagen. Und das Kind, bleibt es bei der Großmutter?
Wilhelm und Helene sahen zum Kinderwagen. Wir finden eine Betreuung, sagte Wilhelm mit seinem strotzenden Lächeln. Die Personaldienstleitende nickte und schloss ihre Tür. Helene schob den Kinderwagen, Wilhelm lief mit langen Schritten neben ihr. Wie selbstverständlich schlug er nicht den Weg zurück zu seinem Wagen ein, sondern brachte Helene und das Kind zum Oberwiek. Die Oder war grau und schlug Wellen unter dem Wind. Wilhelm sah auf die Armbanduhr und verkündete mit Blick in die Richtung seines Wagens, dass er schon aufbrechen müsse, man erwarte ihn am Nachmittag in Berlin. Sicherlich werde die Straßenbahn bald kommen, sie werde es allein zurück schaffen, nicht wahr? Helene nickte.
In den ersten Monaten waren die feinen, glänzenden, dunklen Haare des Kindes ausgefallen, eins nach dem anderen, bis das Köpfchen schließlich kahl war und ein weißblonder Flaum wuchs, es wurden goldblonde Locken, goldblond wie Helene. Helene arbeitete laut Vertrag sechzig Stunden in der Woche im Schichtdienst, in Wirklichkeit waren es mehr als diese sechzig Stunden, alle zwei Wochen hatte sie einen Tag frei, sie holte ihr Kind von Frau Kozinska ab und hatte mit seinem dritten Geburtstag einen Platz im Kindergarten zugeteilt bekommen. Sie war froh darüber, weil sie manches Mal bei Frau Kozinska geklopft und niemand ihr geöffnet hatte. Dann hatte ihr Kind hinter der verschlossenen Tür geschrien, Mutter, hatte es geschrien, Mutter, manchmal hatte es auch nach der Tante geweint, wie es Frau Kozinska nannte. Helene hatte vor der verschlossenen Tür warten müssen, weil Frau Kozinska schnell hinuntergegangen war, um Besorgungen zu machen, und manches Mal erst nach einer Stunde zurückkehrte.