Wie heißt denn Ihre Kleine? Das hatte die Kindergärtnerin gefragt, als Helene ihr Kind zum ersten Mal brachte. Helene betrachtete seine goldenen Locken, die sich wie Korkenzieher weich über seine Schultern legten.
Peter. Sie hatte ihm noch kein einziges Mal die Haare geschnitten.
Wir kümmern uns um Ihren Jungen, sagte die Kindergärtnerin freundlich. So ein hübsches Kerlchen.
Helene würde ihm jetzt die Haare schneiden müssen. Die Kindergärtnerin strich Peter über den Kopf und nahm ihn bei der Hand.
Helene lief zwei, drei Schritte hinterher, sie hockte sich auf den Boden und küsste Peters Wange. Sie drückte ihn an sich. Er weinte und hielt sich mit seinen kleinen Armen fest.
Ich bin bald zurück, versprach Helene, nach dem Abendessen hole ich dich ab.
Peter schüttelte den Kopf, er glaubte ihr nicht, er wollte nicht hierbleiben, er schrie, er klammerte sich an sie, die Tränen spritzten ihm aus den Augen, er biss in ihren Arm, damit sie bleibe oder ihn mitnehme, und Helene musste schnell ein Lächeln zaubern und aufstehen, ihn von sich losmachen, ihm den Rücken zuwenden und hinauseilen. Sie durfte vor Peter nicht weinen. Das machte es noch schwieriger.
Wenn Helene ihn abholte, war sein Blick ein fremder. Er fragte sie: Wo warst du, Mutter?
Helene musste an die verwundete Pflegerin aus Warschau denken, deren beide Beine fehlten. Sie war ihnen erst vor wenigen Tagen gebracht worden, sie war die erste Kriegsverwundete, die Helene sah. Am ganzen Körper waren ihre Lymphknoten dick geschwollen und an mehreren Stellen des Körpers hatte sie die typischen kupferfarbenen Knötchen, die sich in den Hautfalten schon zu großflächigen Papeln entwickelt hatten. Helene musste bei der Versorgung der Geschwüre Handschuhe und Mundschutz tragen, weil die Papeln bereits nässten und Ansteckung drohte. Nur gut, dass die Patientin keinerlei Juckreiz verspürte. Dank der Antibiose heilten die Wunden der Beinstümpfe gut, aber ihr Herzmuskel hatte sich noch nicht an das lange Liegen und den langsamen Kreislauf gewöhnt, und sie litt unter Schlaflosigkeit. Es konnte sein, dass das Prontosil auch gegen die Syphilis helfen würde, vielleicht.
Wo warst du, Mutter? Hörte Helene ihren Peter fragen. Sie saßen in der Straßenbahn nebeneinander. Sollte sie ihm erzählen, sie wäre in der Sternwarte gewesen oder im Schmetterlingshaus, ihm eine schöne Geschichte erzählen, die es in seinen Augen noch unverständlicher machen musste, weshalb sie ihn für zwölf Stunden abgegeben hatte?
Mutter! Sag was. Warum sagst du immer nichts?
Arbeiten, sagte Helene.
Was arbeiten? Peter zupfte an ihrem Ärmel, er sollte aufhören, an ihrem Ärmel zu zupfen. Was arbeiten?
Konnte er keine Ruhe geben, musste er immer weiterfragen? Helene sagte zu Peter: Frag nicht.
Eine ältere Frau stand von der Bank vor Helene auf, sie wollte wohl an der nächsten Station aussteigen und hielt sich an der Stange fest. Die Frau strich Peter über das frischgeschnittene Haar: Was für ein schmucker Pimpf, sagte die Frau. Helene blickte aus dem Fenster. Es kamen noch nicht viele Verwundete bis nach Stettin, die meisten blieben in den Lazaretten, und dank der Tatsache, dass Helene ein Kind hatte, wurde ein ums andere Mal davon abgesehen, sie zu versetzen. Schwesternmangel, hieß es, man suchte händeringend Freiwillige für die Lazarette, die Ausbildungen wurden verkürzt, die ledigen Schwestern wurden in die Lazarette verpflichtet und man griff zunehmend auf verheiratete zurück, um die Städtischen Krankenhäuser noch bewirtschaften zu können. Eines Tages wurden zwei Schwestern nach Obrawalde verpflichtet, auch Helene wollte man schicken, schon hieß es, eine erfahrene Schwester wie sie benötige man dort. Aber sie hatte Glück, über einen Arzt wurde bekannt, dass man auch in der Stettiner Frauenklinik dringend erfahrene Kräfte brauchte, und die Leitung sah ein, dass es für Helene schwierig sein würde, ihr Kind mit nach Obrawalde zu nehmen. Regen schlug gegen die Fensterscheibe. Es war längst dunkel geworden. Die Lichter der Autos verschwammen.
Gott sei Dank bekommen Frauen wie Sie wieder Kinder. Muss man sagen. Die Frau nickte jetzt anerkennend.
Helene sah die Frau nur flüchtig an, sie wollte nicht nicken, sie wollte nichts sagen, aber die Frau ließ sich nicht aufhalten.
Nur kurz musste sie an das sechzehnjährige Mädchen von heute Mittag denken. Was für schöne rötliche Haare das junge Mädchen hatte. Mandelbraune Augen, unter rotgoldenen Wimpern. Ihre Brüste waren schon groß wie Äpfel. Sie hatte das Lachen der Morgensonne, sie ging gerade erst auf, sechzehn Jahre. In Gebärdensprache hatte das Mädchen vor der Narkose Zeichen gemacht, von denen Helene ahnte, was sie bedeuten mochten. Es waren fragende Zeichen, auch ängstliche. Sie hatten ihr eine Vollnarkose gegeben. Helene hatte den Wundhaken gehalten. Keine konnte so still halten wie Helene. Der Chirurg durchtrennte die Eileiter. Beim Nähen musste man auf die Tube achten. Der Chirurg hatte Helene gebeten, zu halten. Er musste niesen und sich die Nase schnauben. Auf sie könne man sich verlassen, hatte der Chirurg zu Helene gesagt, und sie gebeten, die Naht zu beenden.
Sie können stolz sein, die Frau wechselte jetzt die Hand und hielt sich mit der anderen an der Stange fest, weil die Straßenbahn in die Kurve fuhr, wirklich, stolz sein, die Frau nickte wohlwollend. Sie meinte Peter. Helene empfand keinen Stolz. Warum sollte sie stolz darauf sein, dass sie ein Kind hatte? Peter gehörte ihr nicht, sie hatte ihn geboren, aber er war nicht ihr Eigentum und nicht ihre Errungenschaft. Helene war froh, wenn sie Peter lachen sah, aber sie sah ihn nur selten, meistens schlief er, wenn sie bei ihm war, er schlief in ihrem Bett, er hatte häufig Angst und wollte nicht allein schlafen. Schließlich waren die Menschen Säugetiere, oder nicht? Warum sollte ein Menschenkind irgendwo allein schlafen, während alle anderen Säugetiere ihre Kleinen bei sich wärmten? Helene sah Peter selten wach und noch seltener lachen.
Wissen Sie, wir würden sonst aussterben.
Helene starrte jetzt durch die Scheibe auf die Straße. Wen meinte die Frau mit wir? Die nordische Rasse, die Menschheit? Das Mädchen, dessen Eileiter heute mittag durchtrennt worden waren, war ein gesundes fröhliches Mädchen. Nur hörbar sprechen konnte sie nicht. Es hieß, man wolle vermeiden, dass sie taubstumme Kinder bekäme. Warum nur war es so schlimm, wenn jemand statt mit dem Mund mit Gesten sprach? Warum sollten die Kinder dieses Mädchens unglücklichere Kinder werden als ihr Peter, der auch nicht auf jede seiner Fragen eine Antwort erhielt? Später, als das Mädchen aufgewacht war, war Helene zu ihr gegangen und hatte ihr eine Apfelsine gebracht. Sie hätte ihr keine Apfelsine bringen dürfen. Die Apfelsinen waren für andere Patientinnen gedacht. Helene hatte ihr die Apfelsine heimlich gebracht. Den Wundhaken hatte sie gehalten, die Naht geschlossen. Hätte der Chirurg zu Helene gesagt, schneiden Sie, so hätte sie womöglich auch den Eileiter durchtrennt. Helene spürte das kühle Glas der Scheibe an ihrer Stirn.
Mutter, hörst du gar nicht zu? Peter kniff ihr jetzt in die Hand. Er sah zweifelnd, fast böse aus. Offenbar wollte er seit geraumer Zeit ihre Aufmerksamkeit erringen.
Ich höre, sagte Helene. Peter erzählte ihr etwas, er erzählte ihr, dass die anderen Kinder Mumeln dewerfen hatten.
Geworfen, sagte Helene, Murmeln geworfen, und musste wieder an das junge Mädchen denken.
Geworfen, Peters Augen strahlten. Er konnte deutlich sprechen, wenn sie ihn ermahnte. Das Mädchen würde jetzt allein in seinem Bett im Saal mit den achtunddreißig anderen Patientinnen liegen. Ob man ihr gesagt hatte, welche Operation an ihr vollzogen worden war? Helene konnte es ihr sagen, am nächsten Morgen, sie musste es ihr sagen. Sie durfte sich später nicht wundern, sie sollte es wenigstens wissen. Vielleicht würde sie am nächsten Morgen gar nicht mehr da sein.