Hunger, jammerte Peter jetzt. Sie mussten aussteigen. Helene fiel ein, dass sie am frühen Morgen das Einkaufen nicht geschafft hatte. Welches Geschäft öffnete schon vor Dienstbeginn? Vielleicht konnte sie bei der Krämerin klingeln. Die hatte es nicht gern, wenn abends noch jemand klingelte, aber Helene blieb häufig nichts anderes übrig, wenn sie nicht zum Einkaufen kam, heute hatte sie nichts zu essen zu Hause.
Von der Krämerin bekam sie zwei Eier und einen viertel Liter Milch und ein ganzes Pfund Kartoffeln. Die Kartoffeln hatten schon kleine Triebe, aber immerhin, Helene war froh, dass sie Kartoffeln bekommen hatte.
Toffeln meckt nich, klagte Peter, als Helene ihm den Teller mit den Kartoffeln hinstellte. Sie wollte nicht ungeduldig sein, sie wollte ihn nicht anschreien, dass er froh sein müsse und essen solle. Lieber sagte sie nichts.
Meckt nich, sagte Peter wieder und ließ ein Kartoffelstück chen von seinem kleinen Löffel auf den Boden fallen.
Helene riss ihm den Löffel aus der Hand und hätte ihn am liebsten auf den Tisch geknallt, sie musste an ihre Mutter denken, das böse Funkeln in den Augen ihrer Mutter, die Unberechenbarkeit, Helene legte den Löffel auf den Tisch. Wenn du keinen Hunger hast, ihre Stimme erstickte, musst du nicht essen. Sie griff Peter am Handgelenk und zog ihn zum Waschbecken. Er weinte, sie wusch ihn.
Sine esse. Peter wimmerte. Sine esse, Peter zeigte mit der Hand hinauf zu dem Bild, das über der Kommode hing. Darauf leuchtete ein gefüllter Obstkorb. Meinte er die Apfelsine? Hätte sie ihm vielleicht die Apfelsine aus dem Krankenhaus mitbringen sollen? Das Mädchen brauchte die Apfelsine, Peter hatte Kartoffeln.
Sine! Peter schrie jetzt, dass es in Helenes Ohr klirrte. Helene biss sich auf die Lippen, sie biss sich auf die Zähne, niemals wollte sie ihre Geduld verlieren, ihre Geduld war alles, sie war Fassung und Form. Helene nahm Peter auf den Arm, drehte im Vorbei gehen das Bild an der Wand um und trug ihn zu ihrem Bett.
An einem anderen Tag, flüsterte sie ihm ins Ohr. An einem anderen Tag gibt es eine Apfelsine. Peter beruhigte sich, er ließ sich gerne streicheln. Helene streichelte seine Stirn und sie steckte die Decke über ihm fest.
Mutter, singe?
Helene wusste, dass sie nicht singen konnte, sie streichelte ihn und schüttelte den Kopf. Eine Frau im Krankenhaus hatte sie heute am Arm gepackt, mit einer alten und knochigen Hand, sie hatte zu Helene gesagt, sie möge sie sterben lassen. Bitte, einfach nur sterben. Schlaf, Peterle.
Singe, bitte, singe? Peter wollte seine Augen nicht schließen.
Vielleicht musste sie sich nur ein wenig anstrengen, Helene wollte singen, sie konnte nur nicht. Gab es ein Lied, das ihr einfiel? Maria durch ein Dornwald ging. Weihnachten war längst vorbei. Ihre Stimme kratzte, kein Ton wollte sich vom anderen abheben. Peter beobachtete sie, Helene schloss ihren Mund.
Singe.
Helene schüttelte den Kopf. Ihr Hals war fest und dick, zu schmal die Öffnung, ihre Kraft gering, die Stimmbänder starr und morsch. Ob es eine krankhaft frühzeitige Alterung der Stimmbänder gab, das Versiegen der Stimme?
Tante singe, verlangte Peter jetzt und wollte sich wieder aufrichten. Helene wusste, dass Frau Kozinska manchmal für Peter gesungen hatte. Sie sang auch, wenn Helene ihr auf der Straße oder im Treppenhaus begegnete. Manchmal hörte man ihr Singen bis in die Wohnung hinauf. Helene schüttelte den Kopf. Frau Kozinska sang gerne, eine ungebrochene Fröhlichkeit, eine beneidenswerte, aber sie hatte Peter zu oft allein gelassen, und wenn sie abends da war, trank sie gerne. Es war ein Segen, dass es jetzt den Kindergarten gab. Nur in den Wochen mit Nachtdiensten war es schwierig. Helene ließ Peter dann allein, er schlief ja die längste Zeit. Sie hatte ihm vor dem Bett gesagt, dass sie wiederkommen werde, und schloss die Tür ab. Wenn sie morgens nach Hause kam, holte sie zuerst die Kohlen aus dem Keller, sie schleppte meist ein gutes Dutzend auf einmal, sie trug sie auf dem Rücken in einer Kiepe und links und rechts noch einen Eimer voller Briketts und Holzscheite. Oben angekommen heizte sie den Ofen an, Peter schlief in ihrem Bett, sie streichelte ihm über das kurze blonde Haar, bis er sich streckte und auf ihren Arm wollte, sie wusch ihn, zog ihn an, gab ihm etwas zu essen und brachte ihn in den Kindergarten, wo er wieder auf ihren Arm wollte, sie ihn aber nicht hochnahm, weil sie sich sonst nicht voneinander trennen konnten. Zurück zu Hause wusch Helene die Wäsche, sie nähte den Riemen der Lederhose an, seit Baden sein Geschäft hatte aufgeben müssen, kam sie an keine guten und günstigen Kurzwaren mehr, Baden war verschwunden, er war im Februar mit den anderen weggebracht worden, nach Osten, hieß es, Helene nähte also den Riemen der Lederhose fest und ersetzte das verlorene Edelweiß gegen einen bunten Knopf und schlief selbst einige Stunden, sie legte ein, zwei Briketts nach und holte Peter vom Kindergarten ab und brachte ihn nach Hause, an den Abendbrottisch und ins Bett und löschte das Licht und schlich sich aus der Tür, sie musste sich beeilen, um rechtzeitig die Straßenbahn zur Nachtschicht im Krankenhaus zu bekommen.
Wenn Helene alle zwei Wochen einen Tag frei hatte, ging sie mit Peter an der Hand hinunter zum Hafen. Sie sahen den Schiffen zu, nur selten kam ein Kriegsschiff herein. Peter bestaunte die Kriegsschiffe, und sie zeigte ihm die Vogelschwärme.
Enten, sagte sie und deutete mit ihrer Hand zu der kleinen Gruppe fliegender Vögel. Sie flogen zu fünft im V. Peter aß gerne Ente, aber Helene besaß nicht das Geld, um eine zu kaufen. Ab und an schickte Wilhelm aus Frankfurt Geld. Sie wollte sein Geld nicht; es war Schweigegeld, sie brauchte sein Geld nicht zum Schweigen. Alle paar Monate schickte er einen Brief mit Geld darin und einem Zetteclass="underline" Meine Alice, kauf dem Jungen Handschuh und Mütze, stand darauf. Helene hatte Peter längst Handschuh und Mütze gestrickt, sie nahm das Geld, steckte es in einen Umschlag und schrieb darauf: Frau Selma Würsich, Tuchmacherstraße 13, Bautzen in der Lausitz. Sie schickte die Briefe ohne Absender nach Bautzen, bis zuletzt, bis zu dem Tag, an dem sie ein schmales, langes Päckchen aus Berlin erhielt. In dem Päckchen befand sich der aus Horn geschnitzte Fisch. Die Kette darin fehlte. Vielleicht hatte jemand Geld benötigt und die Rubine verkaufen müssen, womöglich war das Päckchen auf der Post geöffnet worden und hatte jemand Gefallen an der Kette gefunden. Im Innern des Fisches steckte ein Brief. Der Brief roch betäubend, er roch nach Leontine. Es war Leontines Handschrift. Meine kleine Alice, in Berlin regnet es immerzu, aber der Frost ist endlich vorüber. Ob du noch unter dieser Adresse wohnst? Martha war in den letzten Jahren sehr krank. Du kennst sie ja, sie klagt nicht, sie wollte nicht, dass du davon erfährst. Wir wollten dich nicht damit belasten. Sie verbot mir, dir zu schreiben. Sie musste die Arbeit im Krankenhaus aufgeben. Man hat ihr eine Arbeit in einem der neuen Arbeitslager zugewiesen. Mir sind hier die Hände gebunden. Einen Ehemann bräuchte sie jetzt, einflussreiche Eltern, einen unmittelbaren Verwandten. Sobald ich sie einmal besuchen darf, muss ich ihr mitteilen, dass gestern ein Brief der gemeinnützigen Stiftung für Anstaltspflege eingetroffen ist. Es heißt darin, ihre Mutter sei vor wenigen Wochen in Groß schweidnitz an einer akuten Lungenentzündung gestorben. Es tut mir sehr leid für sie. Obwohl ich weiß, dass manche es als Gnadentod bezeichnen.
Die Sirenen der großen Schiffe waren tief, sie ließen das Zwerchfell vibrieren. Selbst in ihren Fußsohlen konnte Helene das Brummen spüren. Peter wollte von seiner Mutter wissen, wo die Kanonen der Schiffe seien. In Leontines Handschrift stand unter dem Brief: Gehab dich wohl. Deine Schwester Elsa. Als Postskriptum hatte sie folgenden Satz vermerkt: Erinnerst du dich noch an die alte Nachbarin Fanny? Sie ist abgeholt worden. In ihrer Wohnung lebt jetzt die Familie eines Obergruppenführers, seine Frau mit drei netten Kindern. Helene wusste, was dieser Brief bedeutete. Leontine musste die Spuren verwischen, sie gefährdete sonst ihrer beider Leben. Sie hatte die einzig möglichen Worte gewählt, um das Ungeheuerliche zu schreiben. Leontine hatte getrocknete Rosenblätter in den Brief gerollt. Die Rosenblätter waren Helene entgegengefallen. He lene musste weinen, aber sie konnte nicht. Etwas hinderte sie, sie konnte nicht anerkennen, was sie verstanden hatte. Ein süßer Duft ging von ihnen aus, vielleicht war es auch nur der Duft von Leontines Parfüm. Ihr wahrer Name sollte in keinen gefährlichen Zusammenhang mit Martha, Helene und sonst jemandem geraten. Ob sie noch am Krankenhaus arbeitete? Musste sie Eierstöcke durchtrennen, wollte man auch sie in ein Lazarett schicken? Schließlich war Leontine in der Zwischenzeit geschieden worden, sie hatte keine Kinder, man konnte sie schicken, wohin man wollte. Sie konnte sich Namen nehmen, so viele sie wollte, Leo, Elsa und ihretwegen auch Abaelard, Helene würde ihre feste und flüchtige Handschrift immer erkennen, sie hatte sich in Helenes Inneres gebrannt. Eine unbändige Sehnsucht ergriff Helene, ihr wurde schwindelig, sie schwitzte.