Kanonen? Peter zog ungeduldig am Ärmel seiner Mutter. Wo sind die Kanonen? Helene wusste es nicht.
Bist du traurig? Peter blickte zu seiner Mutter hinauf.
Helene schüttelte den Kopf. Der Wind, sagte sie. Komm, wir gehen noch zum Bahnhof, wir sehen uns die Züge an. Helene musste daran denken, wie es wäre, wenn sie einfach eine Fahrkarte lösen und mit Peter nach Berlin fahren würde. Es sollte möglich sein, Leontine ausfindig zu machen. Es musste. Aber wer wusste, welche Gefahr darin lag?
Der Bahnhof lag unterhalb der Stadt an der Oder. Die Züge fuhren ein und aus. Der Wind fegte über den Bahnsteig und trieb ihnen viele Tränen aus den Augen. Sie hatten sich auf eine Bank gesetzt und hielten einander an der Hand. Im Krankenhaus gab es eine neue Schwester, Ida Fiebinger, sie kam aus Bautzen. Helene war seltsam zumute geworden, als sie Ida Fiebinger zum ersten Mal sprechen gehört hatte, die Melodie, die geschlossenen Vokale, das trichterförmige Schleppen der Sätze. Helene musste ständig Idas Nähe suchen. Eines Tages sagte Schwester Ida, als der Sturm einen Baum im Hof des Krankenhauses gefällt hatte: Weiß der Wind mal nicht wohin, weht er über Budissin. Schwester Ida hatte dabei gelacht und mit Blick aus dem Fenster zu dem gefallenen Baum zu den anderen Schwestern gesagt, sie müsse sich wohl um ihre Heimat keine Sorgen machen. Helene wäre bei dem Satz am liebsten im Erdboden versunken, nur mit Mühe hatte sie ein Lächeln unterdrückt. Wie lange hatte sie dieses Sprichwort nicht gehört?
Peter sagte, ihm sei kalt, er wollte nach Hause. Helene vertröstete ihn, noch einen Zug sollten sie abwarten. Einmal hatte sich Schwester Ida, als sie beim Mittagessen in der Schwestern küche mit ihren Tellern im Kreis standen, mitten im Satz zu Helene umgedreht und gesagt: Jetzt weiß ich, warum du mir die ganze Zeit so bekannt vorkommst. Du bist aus Bautzen. Helene hatte ganz ruhig ihre Gabel in den Teller gelegt, sie fühlte so plötzlich das Blut in ihrem Gesicht, dass sie einen Hustenanfall vortäuschen und sich entschuldigen musste. Bestimmt kennst du meinen Onkel, er war bis zur Pensionierung ein bekannter Richter in Bautzen, fügte Ida jetzt eifrig hinzu.
Helene schüttelte den Kopf. Nein, beeilte sie sich, aus Dresden komme ich, Bautzen habe ich nur einmal auf der Durchreise besucht. Gibt es dort nicht so einen schiefen Turm? Schwester Ida sah Helene enttäuscht an, etwas ungläubig, aber enttäuscht. Auf der Durchreise? Nach Breslau, behauptete Helene und hoffte inständig, dass keine der Schwestern aus Breslau kam und mit ihr über eine Stadt sprechen wollte, die sie tatsächlich nicht kannte. Seither fühlte Helene an manchen Tagen Schwester Idas prüfenden Blick auf sich. Der Wind jaulte und summte an den Telegrafenmasten. Helene schaute hinüber zur Lokomotive. Aus ihrem Schornstein dampfte es nur noch schwach. Es sah aus, als wollte sie sich heute nicht mehr aus dem Bahnhof fortbewegen. Niemand war gekommen und Helene würde keine Fahrkarte lösen. Helene stand auf, Peter hielt sich an ihrer Hand fest, sie gingen schweigend die Treppen hinauf in die Stadt zurück.
Dass Wilhelm sie noch einmal besuchen wollte und dafür just den Sommer nutzen würde, in dem Peter in die Schule kam, damit hatte Helene nicht gerechnet. Sie hatte die Wohnung hergerichtet, die Wand neben dem Küchenfenster neu gestrichen, weil es dort von oben reingeregnet hatte, sie hatte die Tapete im Schlafzimmer angeklebt und Nägel in den wackelnden Stuhl geschlagen, bis er fest und stabil am Küchentisch stand, und zuletzt hatte sie die Gardinen gewaschen, die Fenster geputzt und einen Strauß Cosmea gekauft. Alles sollte glänzen, wenn Wilhelm kam. Er sollte nicht den Kopf schütteln und glauben, sie schaffe das nicht allein mit dem Kind. Alles schaffte sie allein. Gemeinsam mit Peter trug sie das Sofa der alten Nachbarn von nebenan hinüber in ihre Küche. Sie erklärte Peter, dass er in der Woche wohl auf dem Sofa werde schlafen müssen. Aber dann zog Wilhelm es vor, selbst auf dem Sofa zu schlafen, und so konnte Peter in ihrem Bett bleiben. Wilhelm sagte, er habe Urlaub; er war im Anzug gekommen. So recht wusste Helene nicht, ob er überhaupt als Soldat diente. Er machte ein Geheimnis darum. Ein Drückeberger war er nicht, Helene schien es, als weise sein Stolz darauf hin, dass er für Höheres und Strategisches berufen sei. Auch kamen seine kurzen Briefe mit etwas Geld alle paar Monate stets aus Frankfurt oder Berlin. Neuerdings stopfte sie das Geld in einen einzelnen dicken Wollstrumpf, den sie zuunterst in ihrem Korb versteckt hatte. Einmal, als Peter sich das Knie aufgeschlagen hatte, weinte und gerne einen Verband haben wollte, und Helene ihm sagte, die Wunde trockne am besten an der Luft, fiel Wilhelm Helene ins Wort, während er dem Jungen mit der Hand in den Nacken schlug: Heul nicht, Peter. Und merk dir eins, der Mann ist zum Töten da, die Frau heilt seine Wunden. Peter hatte den Kopf in den Nacken gelegt und zu seinem Vater hinaufgesehen. Vielleicht gab es ein Lächeln? Aber nein, der Ernst des Vaters galt ihm.
Wilhelm sah gut aus, kräftig und fröhlich. Er strotzte. Nachts schnarchte er laut und zufrieden, Helene konnte kein Auge zutun. Seine Kragen waren sauber, die Hemden gebügelt, in der Brieftasche trug er die Fotografie einer lächelnden Frau. Helene hatte seine Hose zum Waschen genommen, dabei war ihr die Brieftasche in die Hände gefallen. Es ging sie nichts an; sie fragte ihn nicht, wie auch sie nicht gefragt werden wollte. Am vierten Morgen erklärte Wilhelm, er wolle vor seiner Rückkehr am Sonntag mit dem Jungen einen kleinen Ausflug nach Velten machen. Womöglich komme sein Bruder aus Gelbensande hinzu. Helene hatte Wilhelms Bruder nie kennengelernt, bis heute wusste sie nicht, ob der es gewesen war, der ihr den Pass und das Zeugnis angefertigt hatte. Peter umschlang die Hüfte seiner Mutter, er wollte nicht ohne seine Mutter fahren. Aber der Vater sagte, er solle kein Weichling sein, ein Junge müsse auch mal ohne seine Mutter eine Reise tun. Velten? Wilhelm glaubte, in Helenes Blick Misstrauen zu erkennen.
Keine Sorge, halb lachte er, halb wies er sie zurecht, ich bring dir den Jungen schon zurück. Selbst im Urlaub muss man mal einen Arbeitskollegen treffen. Da Wilhelm seinen Wagen in Frankfurt gelassen hatte, nahmen die beiden einen Zug. Für Peter war es ein großer Tag, es sollte seine erste Reise im Zug sein. Womöglich wollte Wilhelm die gemeinsame Zeit mit seiner Frau verkürzen, indem er die Hälfte der angekündigten Urlaubswoche mit Peter einen kleinen Ausflug machte. Vielleicht stand die Reise auch im Zusammenhang mit seiner Arbeit.
Helene arbeitete in dieser Zeit auf der Wöchnerinnenstation, die Frauen konnten nicht genug Fürsorge erfahren, beständig mussten Vorlagen gewechselt und Bettpfannen ausgetauscht werden, kalte Wickel gegen das Kindbettfieber und solche aus Quark bei aufkommender Mastitis mussten stündlich erneuert werden. Die Risse versorgt, die Nabel gepudert. Helene brachte den Frauen ihre Säuglinge aus dem Säuglingszimmer und legte sie ihnen an die Brüste. Rosa gesunde Kinder saugten süße Milch aus den gefüllten Brüsten ihrer Mütter, während ihre Väter fern im Osten und im Westen, zu Land, See und Luft an der Front kämpften und die Aushungerung Leningrads überwachten. Helene wollte nicht denken, es gab Anweisungen, Abläufe, Zurufe, sie musste handeln, sie musste laufen, sie drückte die Säuglinge an die Brüste ihrer Mütter, sie wickelte sie, wog und impfte und schrieb einen letzten Brief an die alte Adresse, die sie von Leontine besaß. Sie würde keinen weiteren mehr schicken; auf keinen einzigen ihrer Briefe war eine Antwort gekommen. Die Fernmeldevermittlung sagte ihr, die Telefonnummer sei nicht vergeben und es sei keine Frau Doktor unter besagtem Namen bekannt. Nur zum Schlafen ging Helene nach Hause.