Am Sonntag, nach der Heimkehr aus Velten, erzählte Peter, sie hätten eine Gießerei besichtigt und in einer Pension übernachtet. Der Onkel habe nicht kommen können, vermutlich habe er keinen Urlaub erhalten. Sie aßen Heringssalat mit Zwiebeln, Äpfeln und Roten Beeten. Nur Kapern hatte Helene keine bekommen können. Peter leckte seinen Teller ab, sein Mund war von den Roten Beeten rosarot. Wilhelm musste zurück nach Frankfurt.
Davon habe ich mehr, als ich ausgeben kann, sagte Wilhelm, als er Peter zum Abschied an der Tür einen Zehner in die Hand drückte. Peter solle sich Karamellen davon kaufen. Helene war froh, dass Wilhelm wieder weg war.
Als Helene sich abends neben Peter ins Bett legte, war Peter noch nicht eingeschlafen. Er drehte sich zu seiner Mutter um.
Vater sagt, wir werden siegen.
Helene schwieg. Vermutlich hatte Wilhelm dem Jungen von den Bomben erzählt. Wilhelm war der festen Überzeugung, dass erst der Dienst an der Waffe einen Mann zum Mann werden ließ. Helene streichelte ihrem Sohn über die Stirn. Was für ein schöner Mensch er war.
Vater sagt, dass ich groß und stark werden soll.
Helene musste lächeln. War er das nicht schon, groß und stark? Sie wusste, dass er oft ängstlich war, aber wer konnte mutig sein, wenn er keine Angst besaß? In den Tagen, als Wilhelm mit Peter fort war, hatte sie ein Klappmesser für Peter gekauft. Sie wollte es ihm im November zum sechsten Geburtstag schenken. Sie wusste, dass er sich nichts sehnlicher als ein Klappmesser wünschte. Er wollte sich eine Angel schnitzen, und er wollte sein Brot schneiden.
Vater sagt, dass du immer schweigst, weil du kalt bist.
Helene blickte ihrem Peter in die Augen, die Leute sagten, er habe ihre Augen, glasklar und blau; es war schwierig, im Liegen den Kopf zu schütteln. Sie streichelte jetzt seine Schultern, und Peter drückte seine Stirn gegen ihre Brust.
Aber das glaube ich nicht, sagte Peter an ihrer Brust. Ich hab dich lieb, Mutter. Helene streichelte ihrem Jungen den Rücken. Es war schwer, den Arm zu bewegen. Vielleicht hatte sie über den Tag zu viele Kranke gehoben. Sie fühlte sich schwach. Was konnte sie ihrem Peter sein? Und wie konnte er ihr Peter sein, wenn sie ihm nichts sein konnte, nicht sprechen, noch erzählen, einfach nichts sagen konnte? Eine andere Frau würde weinen, vermutete Helene. Vielleicht stimmte, was Wilhelm behauptete, vielleicht war ihr Herz ein Stein. Kalt, eisig, eisern. Sie weinte nicht, weil ihr nicht zum Weinen war; ihre Füße taten ihr weh, der Rücken schmerzte, sie war den ganzen Tag gelaufen, sie wusste, dass sie nur noch fünf Stunden zum Schlafen hatte, ehe sie aufstehen, die Wäsche bügeln, die Küche wischen, für Peter das Frühstück richten, ihn wecken und zur Schule schicken würde, ehe sie selbst ins Krankenhaus arbeiten ging. Ihr Arm, mit dem sie Peter gestreichelt hatte, der jetzt auf ihm lag, auf ihrem schlafenden Kind, schmerzte. Eine Sehnenentzündung konnte sie nicht gebrauchen. Eine Schwester wurde nicht krank. Wilhelm hatte am Sonntag zum Abschied zu ihr gesagt: Alice, du bist eisern und zäh. Du brauchst mich nicht. Es war ihr nicht möglich, seine Worte zu deuten. War er stolz, war er beleidigt, war er zufrieden, weil seine Abkehr hierdurch eine gewisse Berechtigung erfuhr? Vielleicht kränkte es ihn, dass sie ihn nicht brauchte. Ein Mann wollte gebraucht werden, keine Frage. Die Eisenfaust wollte ihr Ziel nicht verlieren, nicht abprallen vom Ziel, Eisen auf Eisen, und gewiss nicht ihrer Exis tenzberechtigung beraubt werden. Und verhielt es sich mit einer Frau anders? Lag ihr nicht auch alles daran, jeden Tag rechtzeitig im Krankenhaus zu sein? Das Eiserne, war das ein Kriterium, eine Eigenschaft, eine Eigenart? Die eiserne Disziplin. Wie oft machte sie Überstunden. Keine Schwester ging, wenn sie sah, dass sich die Bettpfannen auf dem Wagen stapelten, wenn eine Patientin sich auf das Hemd gebrochen hatte und eine andere im Sterben lag. Das eiserne Mitgefühl. Auch Peter hatte sie angewöhnt, nicht krank zu werden. Die eiserne Vernunft. Als er klein war, hatte er die Windpocken und die Masern gehabt, sie hatte die Kozinska bitten müssen, auf ihn aufzupassen, damit sie selbst rechtzeitig zur Arbeit kam. Die Kozinska hatte es über den Tag nicht einmal geschafft, ihren Peter zu waschen, sie hatte vergessen, ihm die kalten Wickel zu machen, auch getrunken hatte er am Abend zu wenig. Vermutlich war sie mit dem Singen beschäftigt gewesen.
Helene wurde am Morgen von Peter geweckt, es war schon hell, er drückte sich an seine Mutter, er schlang seine Arme um sie, er flüsterte: Ich hab dich so lieb, Mutter. Plötzlich lag er auf ihr und vergrub sein Gesicht an ihrem Hals. Sein seidiges Haar kitzelte sie. Er sollte nicht auf ihr liegen, wusste er das nicht? Und während sie ihn von sich schob, sagte er: Deine Haut ist so weich, Mutter, du riechst so gut, ich will immer bei dir bleiben, immer, und er versuchte, sich nicht von ihr runterschieben zu lassen, er hielt sie fest, seine Hand berührte ihre Brust, und sie spürte etwas Kleines, Hartes an ihrem Schenkel, das nur eine Erregung sein konnte, seine Erregung. Helene stieß ihn von sich und stand auf.
Mutter?
Beeil dich, Peter, du musst dich waschen und in die Schule gehen, sagte sie mit dem Rücken zu ihm. Mehr sagte sie nicht, sie wollte sich nicht zu ihm umdrehen, sein Gesicht nicht sehen.
Viele schickten ihre Kinder jetzt im Krieg auf das Land, aber wenn sie ihn auf das Land schicken würde, würde man sie nach Obrawalde schicken, in ein Lazarett oder nach Ravensbrück. Helene wollte nirgendwohin geschickt werden, also konnte sie auch Peter nicht aufs Land schicken.
Die Sonne geriet in die Schieflage, herbstliche Schieflage zur Erde. Der Wind blies, er wimmerte, er pfiff. Einmal hängte Helene die Wäsche im Hof auf, als sie die Kinder spielen und rufen hörte. Sie jagten einander, sie ärgerten sich. Deutlich konnte Helene die Stimme von Peter aus den Stimmen der anderen Kinder heraushören.
Jude Itzig Lebertran
hat geschissen Marzipan
Marzipan ist ungesund
Jude ist ein Schweinehund.
Das Laken hing ihr im Weg, der Wind schlug es ihr ins Gesicht, der Wind war frisch, sie konnte die Kinder nicht sehen, nur ein Mädchen aus dem Nachbarhaus stand unschlüssig in der Toreinfahrt. Helene heftete die letzte Wäscheklammer an das Laken und drehte sich um. Wo war er nur, der Lausebengel? Oft war sie froh, wenn er allein um die Häuser rannte und sie in Ruhe ihrer Arbeit nachgehen konnte, er hatte Freunde, er wurde selbständig, er sollte sie eines Tages nicht mehr brauchen, aber jetzt wollte sie wissen, wo er war. Wie kam er nur auf diesen Reim? Marzipan ist ungesund. Wegen der Bittermandeln? Zyankali? Es gab seit fast drei Jahren keine Juden mehr in Stettin, keinen einzigen, sie waren alle weggebracht worden.
Hast du meinen Peter gesehen? Helene fragte das Mädchen in der Toreinfahrt. Sie schüttelte den Kopf, nein, sie wusste nicht, wo er hingelaufen war.
Helene wartete mit dem Abendessen auf ihn. Die Lebensmittel wurden rationiert, die Krämerin hatte ihr ein Ei gegeben und einen viertel Liter Milch und einen Salatkopf, von der Tochter der alten Fischfrau unten am Bollwerk hatte sie eine Makrele bekommen, die hatte sie mit dem letzten Stück Butter und einem getrockneten Salbeiblatt gestopft und im Ofen gebacken. Peter mochte gebackenen Fisch. Als er zur Tür hereinkam, waren seine Knie beide aufgeschürft, am Ellenbogen hatte er Schorf, der aufgesprungen war. Seine Hände waren schwarz, auf der Nase hatte er einen Strich aus Kohle. Seine Augen glitzerten, offenbar hatte er Spaß gehabt.