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Auf leisen Sohlen ging Helene rückwärts zur Tür, dort wartete sie, sie hoffte, der Vater würde sie noch etwas fragen, aber der Vater hatte die Stirn wieder auf den Handrücken der Mutter gelegt und wiederholte die Worte: Mein Täubchen, meine Liebe. Helene bewunderte ihren Vater für seine Liebe. Wer ihre Mutter liebte, dem konnte kein Krieg etwas anhaben.

Am folgenden Abend hatte keines der Mädchen dem Vater eine gute Nacht gewünscht. Sie hörten ihn im Zimmer nebenan auf und ab gehen und wussten, dass er weder Rat noch Hilfe erhielt. Manchmal sagte er etwas, es klang wie Freude! und wie Gott! Nur selten hörten sie zwischen diesen Worten das Fiepen seines Hundes.

Die Mädchen lagen eng aneinandergeschmiegt, Helene drückte ihre Nase zwischen die Schulterblätter der großen Schwester, von Zeit zu Zeit reckte sie ihr Kinn und schnappte nach Luft, während Martha in regelmäßigen Abständen eine Seite umblätterte und leise für sich lachte. Doch dann hörten die Mädchen laut und deutlich die tiefe, vom starken Rauchen etwas mitgenommene Stimme der Mutter: Wenn du gehst, sterbe ich.

Helene strich mit der Hand über das mattbraune Mal, Marthas Rücken war mager und zart, und sie strich auch über die Sommersprossen, mit dem Finger fuhr sie entlang der fein gehäkelten Spitze des Nachthemdes, hin und her.

Ein Wort nur, bitte.

Nicht betteln.

Bitte. Nur ein Wort.

Erst mach weiter. Oben, ja, weiter oben.

Helene folgte den Anweisungen ihrer Schwester und ließ ihre Hand über die Haut streichen, das Nachthemd und die Schulter hinauf, kreisen, von dort den Arm hinab, über die nackte Haut, und wieder das Leinen unter sich den Rücken aufwärts und abwärts und entlang der Wirbelsäule, Wirbel um Wirbel, die sie deutlich unter dem Stoff spüren konnte. Dann hielt sie still.

Ein Wort.

Stern.

Helene bewegte nur leicht ihre Hand, sie malte die Zacken, hielt inne und forderte.

Noch eins.

Will der Stern meiner Hoffnung verglühn.

Helene belohnte Martha. Sie kraulte ihren Nacken. Zeile für Zeile, Strophe für Strophe erwarb sich Helene mit ihren Händen Byrons Worte aus Marthas Mund.

Unter dem Fenster fuhr ein Pferdewagen vorüber, und mit dem Rütteln des Wagens auf dem Kopfsteinpflaster schepperte etwas und klirrte, als habe der Wagen Gläser geladen. Vermutlich war es ein Lieferant vom Gasthaus Drei Raben, das im Frühjahr sein neues Haus in der Tuchmacherstraße bezogen hatte. Die Eröffnung hatte die Straße belebt. Der Bierkutscher verstellte mit seinen Fässern den Bürgersteig, die feineren Damen gingen mitten am Tage zum Kaffeetrinken, während ihre Köchinnen und Haushälterinnen oben auf dem Kornmarkt die Einkäufe erledigten, und abends grölten die Husaren auf der Straße, die plötzlich zu schmal und zu klein wirkte.

An den Wochenenden, in der Nacht vom Sonnabend auf den Sonntag, bebte jetzt das Viertel südlich des Kornmarkts. Bis in den frühen Morgen sangen und stampften die Männer und Frauen zu den bekannten Melodien eines Klaviers. Wurde der Klavierspieler müde und verstummten seine Tasten, so packte ein anderer sein Akkordeon aus. Sie kamen aus den kleinen Orten in den Bergen, aus Singwitz und Obergurig, selbst aus Cunewalde und Löbau reisten die Menschen an den Wochenenden an. Am Morgen gingen sie auf den Markt, verkauften ihre Leitern und Seile, ihre Körbe und Krüge, die Zwiebeln und den Kohl und erwarben etwas, das es bei ihnen nicht gab. Apfelsinen und Kaffee, feine Pfeifen und grobgeschnittenen Tabak. Die Nacht hindurch tanzten sie im Gasthaus Drei Raben, bevor sie am frühen Morgen ihre Wagen anspannten und bestiegen, manch einer zog einfach seinen Handkarren zurück ins Bergdorf. Doch während der Woche war es in Bautzen still.

Helene streichelte den Rücken ihrer Schwester, mit der Daumenkuppe strich sie die Wirbelsäule entlang.

Fester, sagte Martha, mit den Nägeln.

Helene bog ihre Finger, damit ihre allzu kurzen Nägel wenigstens die Haut ihrer Schwester streifen konnten. Vielleicht würde sie die Nägel Martha zuliebe lang wachsen lassen, sie spitz feilen, wie sie es bei einer Freundin gesehen hatte.

So? Mit der linken Hand zeichnete Helene eine Himmelskarte auf Marthas Schulterblatt, von Sommersprosse zu Sommersprosse zog sie Linien und verband sie zu Sternbildern, die sie kannte. Das erste war der Orion, der Marthas Muttermal wie ein Schutzschild über der Brust trug, der mittlere der drei hellsten Gürtelsterne war etwas erhaben. Helene wusste, an welchen Stellen sich Martha strecken und wann sie sich dehnen würde, lautlos, erstarren und krümmen. Cassiopeia ging auf ihrer Karte unmittelbar in die Schlange über, eine Schlange mit großem Kopf. In ihrer Mitte erhob sich der Schlangenträger. Helene kannte ihn aus einem Buch, das sie im Regal des Vaters gefunden hatte. An manchen Tagen wand sich Martha unter Helenes Händen, und hörte Helene genau hin, konnte Marthas Atem als ein Zischen gelten. Helene stellte sich vor, wie es wäre, Martha in die Luft zu heben, sie zu tragen, wie schwer sie wäre. Marthas Seufzen war unvorhersehbar, Helene lockte es, sie glaubte, jede Faser, jeden Nerv unter ihrer Schwester Haut zu kennen, strich an ihr entlang wie auf einem Instrument, das nur klang, wenn man die Saiten auf eine ganz bestimmte Weise strich. In Helenes Augen war Martha schon eine Frau. Vollkommen erschien sie ihr. Sie hatte Brüste, deren Knospen gewölbt waren, hell und zart und weich, und an manchen Tagen im Monat wusch sie heimlich kleine Wäsche. Nur wenn Helene eine Strafe verbüßen sollte, weil sie Rosinen stibitzt oder ein falsches Wort fallen gelassen hatte, übergab Martha Helene ihre kleine Wäsche. Helene fürchtete Marthas schroffe Weisungen. Sie wusch Marthas Blut aus dem Leinen, nahm das braune Fläschchen Terpentinöl, drehte den Schraubverschluss auf und zählte für das letzte Spülwasser dreißig Tropfen ab. Zum Trocknen hängte sie im Winter die kleine Wäsche vor das Südfenster des Dachbodens. Das Terpentin verflog, und die Sonne tat ihr Übriges, um die Wäsche weiß leuchten zu lassen. Es würde noch Jahre dauern, bis Helene selbst kleine Wäsche zu wringen hatte, sie war neun Jahre jünger als Martha und erst im vergangenen Sommer in die Schule gekommen.

Weiter unten, sagte Martha, und Helene folgte ihrem Befehl, sie streichelte tiefer die Flanke der Schwester hinab, bis dorthin, wo die Hüfte sich sanft wölbte, und von hier im Bogen zurück zum Ende der Wirbelsäule.

Martha seufzte tief, es folgte ein Schmatzen, als öffne sie den Mund, um etwas zu sagen.

Nierchen, sagte Helene.

Ja, und auf zu den Rippchen, zur Lunge, mein Herz.

Schon seit einigen Minuten hatte Helene nicht mehr das Umblättern einer Seite gehört. Martha verharrte auf der Seite liegend, den Rücken ihr zugewandt und hielt still in der Erwartung. Helenes Hände kamen und gingen, sie steigerte Marthas Verlangen, noch ein Seufzen, ein einziges wollte sie hören, ihre Hände flogen jetzt sachte über die Haut, berührten nicht mehr alles, nur noch wenig, das wenigste, ihr Verlangen ließ sie schneller atmen, erst Helene, dann Martha, und schließlich beide, es klang wie das Keuchen beim Wringen, wenn man allein am Waschtisch stand und nichts hörte als den eigenen Atem und das Gurgeln der Wäsche im Wasser der Emailleschüssel, das Sprudeln des Waschpulvers, schäumendes Soda, hier das Keuchen zweier Mädchen, noch kein Gurgeln, nur Atmen, ein Sprudeln, bis Martha sich plötzlich umdrehte.

Mein kleiner Engel, Martha umfasste Helenes Hände, die sie eben noch gestreichelt hatten, sie sprach leise und deutlich: Morgen habe ich um vier Dienstschluss, und du holst mich vom Krankenhaus ab. Wir gehen hinunter zum Fluss. Marthas Augen leuchteten auf, wie manchmal in letzter Zeit, wenn sie einen Gang zur Spree ankündigte.