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Es gab kein Echo, oben in den Wipfeln rauschte der Wind, er peitschte die obersten Äste, er wollte die Erde erreichen. Der Junge schrie es in jede Richtung. Mutter!

War es nicht einfach, stillzuhalten? Die einfachste Übung schlechthin, kein Zittern, kein Knacken, nur Stille.

Der Junge setzte sich auf den Hosenboden und weinte. Es war kein Spaß. Wenn sie jetzt wenige Meter neben ihm aus dem Gebüsch käme, würde er wissen, dass sie ihn beobachtet und sich absichtsvoll versteckt hatte. Mit welcher Absicht, warum? Helene schämte sich und hielt still, und der Junge weinte. Sie atmete flach, nichts einfacher als das. Kein Niesen, kein Verrat. Die Ameisen kitzelten sie, an der Hüfte brannte es schon, die winzigen Biester gelangten in ihre Kleider und bissen. Eine feingliedrige rote Spinne, nicht größer als ein Stecknadelkopf, krabbelte auf ihrer Hand. Der Junge stand auf, er blickte in jede Richtung, nahm ihren Korb und machte sich auf den Weg in südöstliche Richtung. Dumm war er nicht, es war die Richtung zurück zum Dorf und zur Stadt. Helene stopfte sich einen Pilz nach dem anderen in den Mund, wie süß war das Alleinsein, das Kauen, die Ruhe.

Als sie seine Schritte im Unterholz nicht mehr hörte, kroch sie aus ihrem Versteck. Nadeln und Borke klebten an ihrem kurzen Mantel. Sie klopfte sich den Rock ab. Es raschelte, ein Vogel flog auf. Helene lief zwischen den Fichten und den jungen Eichen in den Wald, in die Richtung, in der er verschwunden war. Sie rief, Peter, und er antwortete schon auf der zweiten Silbe seines Namens, mit hoher Stimme, erleichtert, glücklich, das Lachen voll Ungeduld, schrie er: Hier bin ich, Mutter, hier.

Eine feine Naht, die Haut über dem Auge so zart, das Auge des Verletzten, eines Vaters, des Krieges. Der Augapfel war unter dem geschwollenen Fleisch kaum erkennbar. Helene zupfte mit der Pinzette die Glassplitter aus dem Gesicht, aus der Stirn, aus der Schläfe, feinste Glassplitter aus der einen Wange, die noch erkennbar war, aus der anderen, die nur Fleisch und roh und blutig war. Der Verletzte rührte sich nicht, nach mehreren Anläufen war es dem Arzt trotz geringer Dosis gelungen, den Mann zu betäuben. Die Medikamente waren knapp, die meisten Menschen mussten ohne Narkosen behandelt werden. Sie lagen auf Pritschen, auf Bettgestellen, die andere aus den Häusern geschleppt hatten, manche kauerten auf dem Boden, weil es nicht gelang, genügend Liegestätten zu beschaffen, unter Zeltplanen und in den Remisen des Krankenhauses, das weitgehend zerstört war. Helene tupfte die rostrote Tinktur auf die Wunden, sie verlangte nach Gaze, aber keine der Schwestern hatte mehr welche. Das kleine Mädchen starrte sie stumm an, seit Tagen, sie hatte das Haar vorn etwas versengt, eine Beule, sonst nichts, und ihre Mutter verloren. Sie sprach kein Wort mehr. Man musste sie fortschaffen aus dem Krankenhaus, irgendwohin, aber wer fand schon Gelegenheit, sich Gedanken zu machen. Hier bekam sie Suppe, sobald es jemand schaffte, eine zu kochen, sobald das Gas wieder da war und wenn wieder Wasser aus dem Hahn kam.

Bald nach den letzten Angriffen war im März die Frauen klinik ins Seebad Lubmin bei Greifswald evakuiert worden. Helene hatte versprochen, dass sie nachkommen werde, sobald sie die Not der Verletzten in der Stadt gemildert hätten; von ihrem Jungen sprach sie nicht mehr.

Die Zange, Schwester Alice, die Pinzette. Helene lief, sie reichte die Instrumente, sie öffnete das Bauchfell, sie schnitt, weil es schnell gehen musste und der Arzt jetzt im anderen Zelt eine junge schwangere Frau versorgte, die bloß ihren Fuß verletzt, vielleicht verloren hatte. Helene schnitt und sie nähte, sie stillte mit Tamponaden, ein Mädchen hielt ihr die Instrumente, das Skalpell und die Schere, die Zange und Nadeln. Helene arbeitete Tag und Nacht, manchmal schlief sie ein, zwei Stunden in dem Schuppen, den sich die Schwestern als Küche hergerichtet hatten. Nur selten dachte Helene daran, dass sie einmal zu Hause nach dem Rechten schauen musste. Peter sollte zur Schule gehen. Er widersprach, die Schule gebe es nicht mehr, dann eben zum Unterricht, mein Gott, er sollte sich etwas zum Essen besorgen, er hatte zwei Beine, oder nicht, er musste schauen, wo er blieb. Hatte er nicht Glück gehabt? Bei keinem der Angriffe war ihm etwas zugestoßen. Einmal im Winter hatte er eine Hand mitgebracht und nichts über die Hand sagen wollen. Womöglich hatte er sie auf der Straße gefunden, die Hand, eine Kinderhand. Helene hatte ihre Mühe gehabt, ihm die Hand abzunehmen. Er wollte sie nicht loslassen. Der Junge musste fort, keine Frage, sie konnte ihn nicht gebrauchen, er sollte seine Hausaufgaben machen, den Ofen heizen, er sollte selbst schauen, wo er Kohlen oder Holz fand, es lag doch überall herum, sie musste ihn allein lassen, seit Wochen, seit Monaten. Wenn sie nach Hause kam, sah er sie aus großen Augen an, immerzu wollte er etwas wissen, er fragte, er wollte wissen, wo sie gewesen sei, und er wollte, dass sie bei ihm blieb. Mit seinen Händen griff er nach ihr, legte sie sich zu ihm ins gemeinsame Bett, umschlangen sie seine Arme wie ein Krake. Tentakeln, er saugte sich fest. Seine Arme nahmen ihr die letzte Luft. Aber sie konnte nicht bleiben, sie hatte zu tun. Mit niemandem sprach sie mehr. Mutti! Eine alte Sterbende rief von ihrem Lager her. Das war Helene nicht, Helene war niemandes Mutti, sie musste sich nicht umdrehen, sie konnte schweigen und tupfen, nähen und verbinden. Sobald es Wasser gab, wusch sie die Verletzten, notdürftig, die Kranken, kaum hielt sie noch Hände von Sterbenden, es starben zu viele, zu viele Hände, zu viele Stimmen, das Ächzen und Stöhnen, schließlich das Verstummen, die Laken mussten geschlossen, die Leichen auf die Wagen geschleppt werden. Zurück zur Operation, ein Mann musste zum vierten Mal operiert werden, am Schädel, der Arzt wollte, dass Helene ihm zur Seite stand, ob da noch etwas zu retten war, das wusste niemand, aber es wurde operiert. Der Brückenkopf war gesprengt, vor der Stadt lauerte die Rote Armee, die Wut der Ausgehungerten, als erstes drangen die Geschichten ein, wie sie Blut geleckt hatten, wie sie sich vorwärtsschlugen, dass man sich fürchten sollte, schon drang sie ein, die Rote Armee, eine Mullbinde fehlte, eine Kompresse, irgendein Wundverband. Wie lang war es her, dass sie zu Hause gewesen war, ein Tag oder zwei? Sie konnte es nicht mehr sagen. Zuletzt hatte sie in der vorigen Nacht wenige Stunden auf der Liege im Schuppen geschlafen, im Wechsel mit anderen Schwestern, nur einmal hatte sie in diesen Monaten etwas geträumt, sie hatte Menschen aneinandergenäht, einen Menschen an den anderen, ein großes Menschengeflecht entstand da, und sie wusste nicht, welcher Teil davon lebendig und welcher schon tot war, nur genäht hatte sie, einen an den anderen, alle sonstigen Nächte und Stunden des Schlafs blieben traumlos, angenehm schwarz, Helene eilte nach Hause, es war schon dunkel, sie schaute nicht auf, betrachtete keinen Schaden, keinen sachlichen, was war diesem Haus geschehen, was jenem, sie eilte voran, sie musste Peter sagen, dass er ein neues Schloss besorgen sollte. Helene hastete, schneller sollten die Füße sie tragen, sie kam nicht vorwärts, der Boden unter ihren Füßen gab nach, sie rutschte, Steine, Geröll, Sand, sie trat, trat die Erde, rutschte tiefer, langsam immer tiefer, ihre Füße bohrten sich mit dem Sand in den Boden, sie nahm die Hände zu Hilfe, auf allen vieren musste sie hinaufkommen und rutschte doch wieder zurück. Ein Bombentrichter konnte zur Falle werden, zur Zeitfalle, zur Nachtfalle. Ein Schritt hinein und keine tausend führten hinaus, man konnte sich anstrengen, so sehr man wollte. Helene rief nicht, es waren zwar noch einige Menschen unterwegs, aber jeder auf seinem Weg, keiner auf ihrem. Ihre Hände tasteten, sie nahm neuen Anlauf, sie tastete oben und tastete unten, bis sie etwas Festes spürte und etwas greifen konnte. Es war so dunkel, dass sie nicht erkennen konnte, was es war. Sie hangelte sich an dem Festen entlang, einem Kabel vielleicht, ein festes Kabel, ein Wasserrohr, gebogen, dann etwas Weiches, das Weiche ließ sie los, es konnte ein Mensch sein, ein Leichenteil, an dem Festen hangelte sie sich, an ihm zog sie sich und kletterte hinauf. Die Straße war schwarz, dunkel der Himmel, in keinem der Häuser brannte Licht, Stromausfall vielleicht. Das Pflaster war vom Nieselregen glatt. Diebe! Aus der Ferne drang die Stimme einer aufgebrachten Frau, die sich über Plünderungen beschwerte. Wer wollte sich in dieser Nacht mit ihr ereifern, in der nächsten, in der übernächsten? Aus einem der schwarzen Fenster lehnte ein junger Mann. Mit ausgebreiteten Armen rief er in die Nacht: Der Erlöser, der Erlöser! Nur selten sah man noch junge Männer, sie mussten schon vom Erlöser sprechen, womöglich glaubte er daran, an die Erlösung. Was weg war, war weg. Helene musste aufpassen, dass sie nicht ausglitt. Helene hörte Männer hinter sich. Anzügliche Worte, sie ging schneller, sie lief. Bloß nicht umdrehen. Eine Verkleidung wäre gut; die Erde duftete nach Frühling, staubige Nacht im Frühling.