Sie musste etwas entscheiden, sie ahnte es; nein, es war keine Entscheidung, nur noch den Entschluss, den musste sie fassen. Alle Deutschen waren aufgefordert, die Stadt zu verlassen, hier war nichts mehr, kein Unterricht, kein Fisch für Peter. Wohin ihn schicken? Er würde sich nicht trennen, niemals, nicht freiwillig. Sie hatte keine Zeit für ausgedehnte Reisen, bringen konnte sie ihn nicht, auch wusste sie nicht, wohin. Unter keinen Umständen würde Peter sich schicken lassen. Jeden Vorwand ahnte er, entdeckte jede noch so zarte Fadenscheinigkeit. Dabei hatte sie nichts mehr für ihn, die Worte waren schon lange aus, sie hatte weder Brot noch eine Stunde, ihr blieb gar nichts für das Kind. Helenes Zeit bedeutete Linderung, Linderung für die Kranken, ein bisschen länger leben, ein bisschen schmerzloser. Es pocht eine Sehnsucht an die Welt, an der wir sterben müssen. Warum ihr diese Else immer im Kopf spukte? Nicht sterben, Else, nur erlöschen. Und das war gut so. Helene gab sich den Verletzten und Kranken, die fragten sie nichts; bloß Hand anlegen, das sollte sie, sie konnte das.
Zu Hause fand sie Peter in ihrem Bett. Er schlief schon. Sie zündete eine Kerze an und legte die Sprotte, die sie in einer Zeitung eingewickelt in ihrer Kitteltasche mitgebracht hatte, auf den Tisch. Er würde sich freuen, eine Sprotte zum Frühstück. Sie nahm den kleinen ochsenblutfarbenen Koffer aus dem Schrank und öffnete ihn. Auf den Boden des Koffers legte sie den Wollstrumpf, gefüllt mit Wilhelms Geld. Darauf zwei Hemdchen, zwei Unterhosen, einen Pullover, den sie ihm erst im Herbst gestrickt hatte. Der Schlafanzug, den er trug, war ihm schon viel zu kurz. Warum musste Peter ausgerechnet jetzt wachsen? Sie würde sich noch in dieser Nacht an die Nähmaschine setzen, die sie nach dem Brand aus der Nachbarwohnung hinüber in ihre geschafft hatte. Sie würde ihm einen neuen Schlafanzug nähen, nichts Aufwendiges, einen ganz einfachen. Stoff dafür gab es. Wozu sonst hatte sie all die Jahre einen Schlafanzug von Wilhelm aufgehoben? Sie legte zwei Paar Strümpfe in den Koffer und sein Lieblingsbuch, in dem er seit Monaten die Geschichten wieder und wieder las, die Sagen des klassischen Altertums. Ohne langes Überlegen schrieb sie auf einen Zetteclass="underline" Onkel Sehmisch, Gelbensande. Es würde ihn doch geben, jenen Bruder von Wilhelm? Zumindest eine Frau, die auf ihren Mann dort wartete, der bald aus dem Krieg heimkehren würde. Auf dem Land gab es noch etwas zu essen. Sie sollten für Peter sorgen, Wilhelms Geld konnte vielleicht helfen. Sie legte den Zettel mit der Adresse vom Onkel und Peters Geburtsurkunde unter den Geldstrumpf, ganz nach unten, er durfte nicht vorzeitig entdeckt werden. Auch den Fisch sollte Peter bekommen, er sollte ihn in dem Koffer mitnehmen, den aus Horn geschnitzten Fisch. Was sollte sie noch mit dem Fisch? Leontines Brief verbrannte sie in einem Topf auf dem Herd, alle Briefe verbrannte sie jetzt. Sobald sie Stettin verlassen musste, würde sie sich auf den Weg machen und Martha suchen, sie musste Martha finden. Sie spürte genau, dass Martha noch lebte, natürlich lebte sie. Vielleicht war das Arbeitslager ein sicherer Ort gewesen. Ein sicherer Ort zum Leben? Auch Martha war zäh, zäh genug. Wer wusste schon, wohin es sie verschlagen würde? Helene wollte über Greifswald fahren, über Lubmin, ihre Patientinnen brauchten sie. Helene nähte den Schlafanzug für Peter, das gleichmäßige Treten ließ sie ruhiger werden. Es sollte ihm an nichts mangeln, deshalb musste er fort, fort von ihr. Helene weinte nicht, sie war erleichtert. Die Aussicht, dass er es besser haben würde und jemand mit ihm sprechen würde, über dies und jenes und die Sonne am Abend, das machte sie froh. Helene nähte das Bündchen doppelt, und eine kleine Tasche nähte sie in das Oberteil. In die Tasche steckte sie ihren Ehering. Ein wenig Gold, das konnte nicht schaden. Die Tasche nähte sie zu. Sie legte den Schlafanzug zuoberst in den Koffer. Sie durfte ihm nicht sagen, dass es um den Abschied ging. Er würde sie nicht gehen lassen.
Epilog
Peter hörte, was ihm sein Onkel sagte. Jetzt kommt die, was sich deine Mutter nennt. Der Onkel schnaubte in sein kariertes Taschentuch und spuckte verächtlich in Richtung Misthaufen. Na, jetzt aber schnell, sagte er mit einem Blick gen Himmel zu den Kranichen. Die anderen waren schon vor Wochen nach Süden gezogen. Peter sollte dem Onkel helfen, den Stall auszumisten. Er sollte ja nicht glauben, er sei zum Faulenzen da. Nur weil er in der Schule so schlau tue, solle er sich nicht zu fein sein. Peter war sich nicht zu fein. Er half im Stall, er half beim Melken, er bekam seine Milch, und er hatte seinen eigenen Schlafplatz auf der Küchenbank. Er wurde gelitten.
All die Jahre meldet die sich nicht, schimpfte der Onkel. Hat sich einfach verdrückt. So was soll eine Mutter sein. Verächtlich schüttelte der Onkel den Kopf und spuckte wieder aus. Mit der Mistgabel stocherte der Onkel in dem großen Haufen. Sieh zu, dass der hier unten nicht in die Breite geht, Peter, immer schön oben drauf.
Peter nickte, er lief vor, zur Stalltür, die schon geschlossen gehalten wurde, weil es ein ungewöhnlich kalter Herbst war. Er öffnete die Tür. Den warmen Atem der Tiere mochte er, ihr Grunzen und Muhen, das Malmen und Schmatzen. Sie hatte sich für seinen Geburtstag angemeldet, für seinen siebzehnten. Peter wusste, dass der Onkel sich über seine Mutter ärgerte. Seine Frau und er hatten keine eigenen Kinder, offenbar wollten sie auch nie welche haben. Peter war zu einer guten Hilfe auf dem Hof herangewachsen, aber die ersten Jahre waren schwer, man glaubte, man müsse sich aneinander gewöhnen, und wusste nicht, ob es für einige Wochen oder einige Monate sein würde. Inzwischen war allen klar, dass es ein Bleiben für immer war, bis Peter alt genug sein würde. Niemand hatte sich an den anderen gewöhnt, sie ertrugen einander. Bei jeder Ausgabe für ein Kleidungsstück hatten Onkel und Tante geächzt. Das Fahrrad, mit dem Peter in die Schule erst nach Graal-Müritz und später zum Bahnhof und nach Rostock fuhr, hatte er sich aus tauglichen Einzelteilen zusammenbauen und die tauglichen Einzelteile selbst finden und im Notfall verdienen sollen. Er hatte verdient, indem er den ersten Feriensommer von früh bis spät Heu gewendet hatte. Danach konnte er es, er hatte Onkel und Tante bewiesen, dass er sich nützlich machen konnte. Das war gut so. Auch sollte er nicht viel essen, aß er einmal zuviel, wurde gesagt: Der frisst uns noch alle Haare vom Kopf. Immer wieder hatten Onkel und Tante die Hoffnung geäußert, dass jemand kommen und Peter holen werde, die Mutter, vor allem die Mutter sollte kommen, hatte die doch damals ihre Adresse angegeben. Onkel Sehmisch, Gelbensande. Einfach so, ohne zu fragen. Aber sie blieb lange verschollen. Auch der Bruder hätte sich mal blicken lassen können, der Bruder, der inzwischen mit seiner neuen Lebensgefährtin am Markt in Braunfels bei Wetzlar residierte, vornehm im Westen. Da war man wer und hatte keine Zeit für so ein Balg. Noch einer zum Füttern, so hatte man Peter in den ersten Jahren auf dem Hof genannt.