Woher kommt sie, kommt sie aus dem Westen? Peter wusste, dass seine Frage den Onkel nur zu neuem Ärger reizen würde, aber er wollte es wissen, er wollte wissen, woher sie kam.
Papperlapapp, Westen. Lebt in der Nähe von Berlin. Will dich mal sehen, pff. Der Onkel rümpfte die Nase und blickte Peter nicht an. Die Tante hat gleich geschrieben, ob sie dich zurückhaben will. Haben wir sie gefragt. Von wegen. Zurückhaben. So wären ihre Verhältnisse nicht, pff, lebt ganz bescheiden mit ihrer Schwester in einer Einzimmerwohnung, arbeitet viel. Pff. Der Onkel bückte sich. Und arbeiten wir nicht alle viel? Hier, Peter, pack mal an. Peter hob den Trog an, der Onkel hob ihn am anderen Ende in die Höhe, gemeinsam trugen sie den Trog in den hintersten Stall, wo in diesen Tagen die stallälteste Sau werfen sollte.
Peter wusste jetzt, dass sie aus der Nähe von Berlin kam. Sie hatte keinen Mann, sie wollte ihn trotzdem nicht zurück. Nur sehen wollte sie ihn mal. Peter spürte, wie er die Lippen aufeinanderpresste, mit den Zähnen die spröde Haut löste, weichte, knabberte und abzog. Was fiel ihr nur ein? Nach all den Jahren. Er ließ sich nicht nur mal sehen, in gar keinem Fall. Sollte sie ruhig kommen.
Der Onkel holte die Mutter am Morgen vom Bahnhof Gelbensande ab, sie sollte mit dem Zug über Rostock eintreffen. Der Onkel fragte, ob Peter ihn zum Bahnhof begleiten wolle, aber die Tante sagte, die Sau habe in der Nacht geworfen, einer müsse sich um die Ferkel kümmern. Die Sau hatte zu viele Ferkel geworfen, es fehlten zwei Zitzen und die zwei überzähligen Ferkel drohten totgebissen zu werden oder zu verhungern, weil jedes einzelne Ferkel eifersüchtig über seine Zitze wachte. Peter ging gerne in den Stall, er kniete sich neben die liegende Sau und suchte unter den saugenden Ferkeln das kräftigste aus. Die hellen Borsten der Sau waren entlang der Milchleiste seltsam weich, ihre Zitzen waren unterschiedlich gefüllt, manche groß und knotig, andere klein und lang. Die Ferkel machten ihre Augen noch gar nicht auf. Peter zog das kräftigste Ferkel von seiner Zitze weg, es quietschte, als wollte man es erstechen. Er würde es eine Weile auf dem Arm tragen, so dass eines der zwei Schwachen in der Zeit an seiner Zitze liegen konnte. Mit dem Ferkel im Arm stapfte Peter durch das Stroh. Er kletterte die schmale Leiter hinauf zum Heuboden. Dort war es trocken und warm, noch wärmer als unten. Hier versteckte sich Peter manchmal, zum Träumen und Lesen. Durch die Ritze der Dachluke konnte man gut den ganzen Hof überblicken. Von hier oben war das Tor zu sehen, die Einfahrt, der Anfang der Pappelallee. Er nahm sein Klappmesser aus der Hose und ritzte in den schon reich verzierten Rahmen eine kleine Kerbe, noch eine, ein Muster, ein Ornament. Es dauerte nicht lang, bis es knatterte und der kleine Lastwagen in Peters Blickfeld erschien. Der Onkel stieg aus, öffnete das Tor, stieg wieder ein, fuhr auf den Hof und stieg wieder aus, um das Tor zu schließen. Hasso schlug an und sprang am Onkel hoch. Er war ein gutmütiger Schäferhund, scharf genug, um den Hof zu bewachen. Den letzten Hund, einen großen Mischling, den Peter sehr ins Herz geschlossen hatte, hatte der Onkel einschläfern lassen, weil er nicht laut genug angeschlagen hatte. Die andere Tür des Wagens öffnete sich und eine junge Frau stieg heraus. Von hier oben sah sie aus wie ein Mädchen, die schlanken Beine unter dem Rock, der modische Mantel im Pepitamuster, das blaue Kopftuch. Peter erkannte ihre blonden Haare wieder, die so hell schienen, als seien sie weiß geworden. Ihre vertraute Gestalt, wie sie ging, wie sie einen Fuß vor den anderen setzte, Peter bekam eine Gänsehaut. Sie trug ein kleines Täschchen und ein Einkaufsnetz in der Hand. Zögerlich blickte sie sich um. Vielleicht hatte sie ihm ein Geschenk mitgebracht. Wie alt mochte seine Mutter jetzt sein? Peter rechnete schnell, sie musste siebenundvierzig sein. Siebenundvierzig! Immerhin, sechs Jahre jünger als Onkel und Tante. Das Ferkel auf Peters Arm quietschte. Peter beobachtete, wie der Onkel mit der Mutter im Haus verschwand. Gewandt stieg Peter die Leiter hinunter und brachte das Ferkel zurück.
Peter! Das war die Stimme des Onkels. Er musste vor die Tür getreten sein, um nach Peter zu rufen. Peter hielt still, er antwortete nicht. Reinkommen, Kaffee trinken!
Noch nie hatte der Onkel ihn zum Kaffeetrinken gerufen. Nur heimlich hatte Peter sich einmal etwas aus der Kanne eingegossen und den Kaffee mit viel Milch und Zucker gekostet.
Peter wartete, bis er nur noch das Schnaufen und Atmen der Tiere hörte, und kletterte wieder hinauf in sein Versteck. Durch die Ritze konnte er das Haus sehen, über die Eingangstür ragte ein hölzernes Dach, mit Bänken links und rechts, wo man sich die Gummistiefel ausziehen und in die Holzpantinen steigen konnte. Wenn es kalt war wie jetzt, dann legte Hasso sich auf die Bohlen zwischen die Schuhe und Bänke. Er fraß gerne an den Schuhen, das war sein einziges Laster, es wurde ihm verziehen, weil er so gut anschlug. Peter konnte durch die Ritze der Dachluke Hassos Schwanz erkennen, der in regelmäßigen Abständen auf die Bohlen schlug. Dann beobachtete er, wie Hasso aufsprang und mit dem Schwanz wedelte. Der Onkel erschien unter dem Vordach und brüllte: Peter!
Schon an dem vereinzelten Ruf seines Namens war erkennbar, dass Rücksicht auf den Besuch genommen wurde. Niemals wäre der Onkel sonst so geduldig, würde seinen Namen rufen, anstatt zu fluchen, über den Lümmel, und wo der schon wieder steckt. Peter musste lächeln. Gleich würde sie unter dem Dach erscheinen. Womöglich würde sie seinen Namen rufen? Peter spürte seine Erregung. Er würde sich nicht zeigen, niemals. Peter! Sollten sie nur rufen, auf ihn warten, hoffen, dass er käme. Mit einer Hand tastete Peter nach seiner Hose, überall an seiner Hose hing Heu und Stroh.
Wart nur, hörte er den Onkel zum Hund sagen, dem werd ich Beine machen. Peter musste mal, aber er wollte seinen Platz nicht verlassen, er wollte sie sehen, wie sie unter dem Dach erscheinen und nach ihm Ausschau halten würde.
Wo ist Peter? Hörte Peter den Onkel fragen. Fass, Hasso, fass. Der Onkel schlug sich ungeduldig auf den Oberschenkel. Gewiss hatte die Tante drinnen schon die Kartoffeln aufgesetzt. Die Mutter sollte zum Mittag bleiben. Die Tante wollte Kohlrouladen machen. Peter hatte vorgeschlagen, sie solle Saure Heringe machen. Er dachte sich, seine Mutter habe die genauso gern gemocht wie er. Rollmöpse und Saure Heringe. Aber die Tante mochte keinen Fisch. Sie wohnten acht Kilometer von der Küste entfernt und die Tante hatte ihr Lebtag keinen Fisch gegessen. Also gab es nie einen. Peter musste daran denken, wie seine Mutter ihm früher öfter einen Fisch zubereitet hatte. Wacholder, das Wort kam ihm in den Sinn. Was für ein schönes Wort. Er sprach es laut: Wacholder. Das waren so kleine schwarze Beeren, mit denen seine Mutter den Fisch gegart hatte. Peter hatte gerne an ihren Händen gerochen; selbst, wenn sie den Fisch ausgenommen und gegart hatte, dufteten ihre Hände wunderbar. Vielleicht konnte er ihn eines Tages vergessen, den Geruch seiner Mutter. Erst gegen vier Uhr sollte ihr Zug von Gelbensande über Rostock zurück nach Berlin gehen. Hasso wedelte mit dem Schwanz. Offensichtlich nahm er den Suchbefehl des Onkels nicht ernst.