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Peter lauschte unter sich. Der Onkel und Bärbel sprachen jetzt leise. Sie wisperten. Vielleicht sprachen sie auch gar nicht. Peter hörte die Milch aus dem großen Tank in Bärbels Kübel fließen. Dann hörte er die Stalltür und sah durch die Ritze, wie Bärbel dem Onkel die Hand gab, das Tor öffnete und ihr Fahrrad hinausschob. Der Onkel ging zum Haus zurück. Er drehte sich noch einmal um, zum Tor, dorthin, wo Bärbel jetzt das Tor schloss. Hasso stand vor dem Onkel, die Ohren aufgerichtet schlug er mit dem Schwanz und winselte. Gewiss roch er die Kohlrouladen, er konnte hoffen, dass etwas für ihn übrig geblieben war. Der Onkel schaute in verschiedene Richtungen. Er rief nicht mehr nach Peter, man konnte ja nicht wissen, dass er nur vorübergehend verschwunden war, gar nicht richtig. Es wurde blau und dunkler. Novembernachmittagdunkel; Zeit für die Mutter. Vielleicht waren es nur die Schneewolken, die den Abend ankündigten. Womöglich freute sich der Onkel schon, war erleichtert, dass Peter endlich fort war. Abgehauen. Gewiss wurde der Onkel wütend, wenn Peter am Abend auftauchen und seinen Schlafplatz auf der Küchenbank begehren würde. Auch noch Ansprüche. Das würde der Onkel sagen.

Was hatte sich die Mutter vorgestellt? Sie wollte ihn sehen, und dann? Wollte sie ihn womöglich um Verzeihung bitten, sollte er ihr vergeben? Er konnte ihr nicht vergeben, niemals würde er ihr verzeihen können. Das stand gar nicht in seiner Macht, selbst wenn er es gewollt hätte, er konnte nicht. Was wollte sie entdecken, wenn sie ihn sah? Mutig war sie. Kam jetzt, nach so vielen Jahren. Einfach so. Seinen siebzehnten Geburtstag hatte sie sich dafür ausgesucht. Den verbrachte er jetzt in seinem Versteck auf dem Heuboden. Er klemmte mit dem Auge an der Ritze, um nicht zu verpassen, wenn sie ging. Die anbrechende Dunkelheit erschwerte die Sicht. Die kleine Lampe an der Eingangstür war angegangen. Hinter dem Küchenfenster leuchtete Licht. Peter fror nicht. Nur der Hunger kam wieder auf. Peter kletterte leise die Leiter hinunter und schlich zum Milchtank. Die Dunkelheit hinderte ihn nicht, hier im Stall kannte er sich aus. Er öffnete den Hahn und trank. Das Schmatzen und leise Fiepen der Ferkel klang wohlig. Keines schrie und quietschte, vielleicht waren die zwei überzähligen schon tot. Draußen bellte Hasso kurz auf, Peter wischte sich mit dem Ärmel die Milch vom Mund, er musste sich beeilen; er wollte es nicht verpassen, wenn sie ging. Hastig stieg er die Leiter wieder hinauf. Er nahm seine Stellung an der Ritze ein und starrte hinaus in den dunkelblauen Hof. Im Stroh über den Tieren war es warm. Er hatte in die Ecke gepinkelt, vorhin, als er musste. Was war ihm anderes übriggeblieben? Hier im Stall konnte es keiner bemerken, niemand roch es. Peter pinkelte gerne ins Stroh. Was gab es Schöneres, als in Stroh zu pinkeln? Er pinkelte in hohem Bogen, so weit er konnte.

Vom Hof her hörte er Stimmen. Ob sie noch manchmal lächelte? Wenn sie gelächelt hatte, hatten sich Grübchen in ihren Wangen gebildet. Die hatte Peter im Gedächtnis, ihre Grübchen. Sie hatte selten gelächelt. Peter kniete sich an die Ritze. In der blauen Stunde sah er seine Mutter, wie sie über den dünnen Teppich frisch gefallenen Schnees lief, sie band sich ihr Kopftuch um und öffnete die Wagentür. Was war ihm von seiner Mutter geblieben? Peter musste an den Fisch denken, den komischen Fisch aus Horn. Niemand wusste etwas mit dem Fisch anzufangen, der Onkel nicht, die Tante nicht. Peter hatte den Fisch lange betrachtet, jeden Abend, er hatte ihn geöffnet und ihm in den Bauch geschaut, aber da war nichts, nur ein Hohlraum. Die Mutter dort unten hatte ihr Kopftuch zugeknotet. Von hier oben sah es nicht so aus, als lächele jemand, und die Abschiedsworte mussten kurz und knapp sein. In der Hand trug die Mutter ihr Täschchen und das Einkaufsnetz. Sollte sie das Geschenk wieder mitgenommen haben? Vielleicht hatte sie an kein Geschenk gedacht, und es war lediglich Proviant für die Reise, den sie in dem Netz trug. Peter war der Hohlraum im Bauch des Fisches unheimlich gewesen. Vielleicht war es drei Jahre her, vielleicht erst zwei, da hatte er den Fisch mit zur Küste genommen und ihn dort ins Meer geworfen. Blöder Fisch, er wollte nicht untergehen, er schwamm auf den Wellen. Die Krümmung des Horizonts, die gefiel Peter. Man konnte sie besonders gut von der Steilküste im Osten sehen, vom Fischland aus. Vielleicht war der Rücken der Mutter etwas gekrümmt? Ganz leicht nur, so, als gräme sie sich. Sie sollte sich grämen, Peter wünschte es sich. Er konnte sich nichts anderes denken, als dass sie sich grämte. Aber das sollte ihm gleichgültig sein, nur eines wollte er ganz sicher: Er wollte sie sein Leben lang nicht mehr sehen. Peter sah, wie die Mutter den Griff der Tür festhielt und hinaufstieg, in den Wagen. Der Onkel schloss ihre Tür und ging hinüber zur anderen Seite, um selbst einzusteigen. Peter hörte den Wind in den Pappeln. Die Tante öffnete die Pforten des Tors. Der Motor wurde gezündet, der kleine Lastwagen fuhr eine Schleife über den Hof und zur Ausfahrt hinaus. Die Tante sprach mit Hasso, sie schloss das Tor. Peter legte sich auf den Rücken. Das Stroh kitzelte ihn im Nacken. Die Dunkelheit besänftigte, er war ganz ruhig.

Julia Franck

Julia Franck wurde 1970 in Berlin geboren. Sie studierte Altamerikanistik, Philosophie und Germanistik an der FU Berlin. Unter anderem erhielt sie den Marie-Luise-Kaschnitz-Preis 2004 und die Roswitha-Medaille der Stadt Gandersheim 2005. Sie verbrachte das Jahr 2005 in der Villa Massimo in Rom. Zuletzt erschienen von ihr» Liebediener«(1999),»Bauchlandung. Geschichten zum Anfassen«(2000) und» Lagerfeuer«(2003).

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Die Mittagsfrau

Roman

Eine idyllische Kindheit in der Lausitz am Vorabend des ersten Weltkriegs, das Berlin der goldenen Zwanziger, die große Liebe: So könnte das Glück klingen, denkt Helene. Aber steht ihr die Welt wirklich offen? Helene glaubt unerschütterlich daran, folgt ihren Träumen und lebt ihre Gefühle — auch gegen die Konventionen einer zunehmend unerbittlichen Zeit. Dann folgt der zweite große Krieg, Hoffnungen, Einsamkeit — und die Erkenntnis, dass alles verloren gehen kann. Julia Franck erzählt in ihrem großen neuen Roman ein Leben, das in die Mühlen eines furchtbaren Jahrhunderts gerät, und die Geschichte einer faszinierenden Frau.

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