Stefan deutete auf das Gasthaus. »Dorthin. Ich treffe mich mit Ohlsberg. Erledige du in der Zwischenzeit deine Einkäufe.«
»Ich denke, wir wollten gemeinsam mit ihm reden?«
Stefan verzog das Gesicht, als hätte er unversehens in eine Zitrone gebissen. »Natürlich«, sagte er nach kurzem Zögern. »Aber du verlangst doch nicht im Ernst von mir, daß ich dich beim Einkaufen begleite?«
»Und warum nicht? Du brichst dir keinen Zacken dabei aus der Krone. Außerdem«, fügte sie hinzu, weit schärfer als nötig gewesen wäre, »wäre ich ganz gerne dabei, wenn du mit Ohlsberg sprichst.«
Stefans Gesicht verfinsterte sich, und diesmal war sein Zorn nicht nur gespielt. »Sei nicht albern, Schatz«, sagte er. »Du weißt, daß es für mich ein Greuel ist, dir beim Einkaufen zuzusehen. Außerdem wartet Ohlsberg schon auf mich. Es macht keinen guten Eindruck, wenn ich zu spät komme - schließlich wollen wir etwas von ihm.«
»Dann wäre es vielleicht auch ganz gut, wenn wir mit ihm sprechen würden, oder?« fragte Liz spitz.
Stefan überhörte ihre Bemerkung kurzerhand. »Dich würde es ja doch nur langweilen«, sagte er. »Wahrscheinlich wird der alte Torfkopf stundenlang mit mir herumfeilschen wollen. Und du kannst ja nachkommen, sowie du fertig bist.« Er zögerte einen Moment, nickte dann knapp und ging mit schnellen Schritten davon. Liz sah ihm mit einer Mischung aus Ärger und Resignation nach, bis er hinter der wuchtigen Tür der Dorfschänke verschwunden war. Stefans Benehmen ärgerte sie mehr, als sie zugeben wollte. Sie hätte darauf bestehen können, ihn zu begleiten. Aber der Tag hatte sowieso schlecht angefangen, und es hatte keinen Sinn, ihn durch einen überflüssigen Streit - noch dazu wegen einer im Grunde lächerlichen Kleinigkeit - vollends zu verderben. Vermutlich hatte Stefan ohnehin recht - sie würde sich nur langweilen.
Trotzdem ärgerte sie sein Benehmen. Es war nicht Stefans Art, ihr so über den Mund zu fahren. Und nicht ihre Art, es sich gefallen zu lassen.
Sie zündete sich provozierend eine Zigarette an, genoß die mißbilligenden Blicke, die sie trafen, und sah noch einmal zum Dorfkrug hinüber, während sie den kühlen, nach Pfefferminz schmeckenden Rauch in die Lungen sog.
Auf den ersten Blick erinnerte das Gebäude mehr an eine Festung als an ein Gasthaus, und in gewissem Sinne war es das wohl auch - ein Überbleibsel aus einer Zeit, in der Gasthäuser wirklich etwas von einer Festung an sich gehabt hatten: Kleine, sichere Horte in der unendlichen Einsamkeit eines Landes, das damals zum größten Teil von Wäldern und unberührter Natur und wilden Tieren beherrscht wurde. Es war ein wuchtiges, niedriges Haus mit Fenstern, die wie Schießscharten konstruiert waren: Außen schmal und innen breiter werdend, zusätzlich mit einem engmaschigen Gitter aus dicken, rostigen Eisenstangen gesichert, so daß die kleinen Butzenscheiben dahinter nur am gelegentlichen Auf blitzen eines verirrten Sonnenstrahl es zu erkennen waren. Die Tür war niedrig und breit und machte den Eindruck, als würde sie auch einem ernst gemeinten Versuch, sie aufzusprengen, durchaus standhalten.
Aber der Krug paßte ins Stadtbild von Schwarzenmoor. Früher hatte auf dem hohen, buckligen Hügel westlich der Stadt eine Burg gestanden, aber Zeit und Wind hatten die Mauern zum Einsturz gebracht, und der unermüdlich nachwachsende Wald hatte den Rest des Gemäuers bald überwuchert. Sie hatten die Ruine einmal besichtigt, aber außer einem Haufen alter Steine und halb vermoderten Balken gab es dort oben nichts zu sehen. Aber Schwarzenmoor hatte etwas von der Wehrhaftigkeit dieser Burg behalten. Die Häuser waren flach und wuchtig, mit sandfarbenen, stabilen Wänden und kleinen Fenstern, und sie standen trotz des Überangebotes an Platz eng zusammen, als hätten sie sich wie eine Herde verängstigter Tiere aneinander gedrängt, um vor der Weite des Landes ringsum Schutz zu suchen.
Schon ihr Wagen stellte einen Anachronismus dar. Es gab nicht viele Autos in Schwarzenmoor, und bei den wenigen handelte es sich durchweg um Kleinlaster oder Kombiwagen, von denen keiner jünger als zehn Jahre zu sein schien, als weigere sich der Ort, mehr als nur die allernotwendigsten Erzeugnisse der modernen Technik anzunehmen. Aber Liz mußte zugeben, daß die alten, schwarzen Wagen besser in den Ort paßten als ihr rot lackiertes Ungeheuer. Die Zeit schien hier stehen geblieben zu sein. Dachte man sich die Fernsehantennen auf den Dächern und die altmodische Tankstelle am Ende der Hauptstraße fort, so hätte der Ort gut aus einem vergangenen Jahrhundert stammen können.
Und in gewissem Sinne stimmte das sogar - Schwarzenmoor war so klein und unbedeutend, daß selbst der Krieg an ihm vor übergegangen war, ohne irgendwelche Spuren zu hinterlassen; fast, dachte sie, als hätte er diese kümmerliche Ansammlung kleiner Häuser, die sich an einer einzigen Straße drängelten, nicht der Mühe wert befunden, sie zu zerstören. Alles hier war alt. Alt und düster und - zumindest für einen Fremden und ganz bestimmt auf den ersten Blick - manchmal ein wenig furchteinflößend, denn wie seine Bewohner hatte auch die Stadt selbst im Laufe der Zeit etwas von der Kälte und Härte des Landes angenommen, das sie umgab. Es war kein Zufall, daß all diese reetgedeckten Bauernhäuser wie kleine Festungen aussahen. Für einen Moment - als wäre dieser Gedanke der Auslöser dazu gewesen - kam ihr die ganze Kühnheit ihres Vorhabens zu Bewußtsein, sich in dieser Stadt und unter ihren Bewohnern irgendwann einmal zu Hause fühlen zu wollen.
Sie schnippte ihre Zigarette in den Rinnstein, streifte das Kopftuch zurück und knotete es wieder zu dem Schal zusammen, der es eigentlich war. In Gedanken rekapitulierte sie noch einmal die Liste der Dinge, die sie einkaufen wollte. Es war eine ordentliche Liste, und der winzige Kofferraum des Jaguars würde am Ende wahrscheinlich wieder total überfordert sein. Aber das war er jedes mal, und sie hatten doch jedesmal eine Möglichkeit gefunden, ihre Beute irgendwie nach Hause zu bringen - auch wenn diese meistens darin bestand, daß sie mit angezogenen Beinen auf dem Beifahrersitz hockte, einen Pappkarton und ein halbes Dutzend Papiertüten auf den Knien balancierte und sich ein zweites Paar Arme wünschte, um ihre Einkäufe am Herausfallen zu hindern...
Sie überquerte die Straße und betrat den einzigen Lebensmittelladen des Dorfes. Drinnen war es angenehm kühl und dunkel, und die Weitläufigkeit des Raumes strafte das gedrungene Äußere des Gebäudes Lügen.
Nach dem grellen Licht der Vormittags sonne brauchten ihre Augen einige Sekunden, um sich an das schattige Halbdunkel hier drinnen zu gewöhnen. Sie blieb dicht hinter der Tür mit der altmodischen Glocke stehen und wartete, bis die verschieden hellen und dunklen Schatten vor ihr zu den trauten Umrissen des Ladens gerannen. Es war niemand da, wie üblich. Sie war der einzige Kunde, der sich zu so früher Stunde hierher verirrt hatte, aber darüber wunderte sie sich schon nicht mehr. Sooft sie hier gewesen war, hatte sie den Laden niemals anders als leer und still vorgefunden. Offensichtlich war sie die einzige, die so früh am Morgen bereits Besorgungen machte - ihr Lebensrhythmus und der der Schwarzenmoorer schienen sich gründlich zu unterscheiden.
Die andere Erklärung - nämlich die, daß die anderen Kunden dieses Geschäftes vielleicht weg blieben, weil sie ihre Nähe mieden und ihr aus dem Weg gingen - schob sie in eine weit entfernte Ecke ihres Bewußtseins, wo sie unter einem ganzen Haufen anderer Gedanken und Vorstellungen verschwand, die sie als fast ebenso unangenehm abgelegt hatte und nach Kräften ignorierte.
Nachdem sich ihre Augen an das Halbdunkel gewöhnt hatten, begann sie im Laden auf und ab zu gehen und die ausgelegten Waren zu mustern. Noch vor einem halben Jahr hätte sie es als Zumutung empfunden, in einem solchen Geschäft einkaufen zu müssen. Es war ein typischer Kolonialwarenladen, in dem es - angefangen von einer frisch geschlachteten Schweinehälfte, von der noch Blut in kleinen, regelmäßigen Tropfen herab lief und um die in spätestens ein paar Stunden bereits die Fliegen summen würden, bis zu Hammer und Nägeln - einfach alles zu geben schien. Hätte hinter der Theke noch ein abschließbarer Glasschrank mit Gewehren und 45er Colts gehangen, wäre er glatt als Dekoration für einen Wild-West-Film durchgegangen, dachte Liz spöttisch. Selbst das obligatorische Glas mit buntgeringelten Zuckerstangen war da, fleckig von zahllosen schmutzigen Kinderfingern und direkt neben der uralten Registrierkasse aufgebaut. Auf einer großen, wuchtigen Theke, die die gesamte Süd wand des Raumes in Anspruch nahm, lagen Ballen von Stoff neben Gläsern mit Mehl, Salz, Zucker, Gewürzen und Süßigkeiten. In einer Ecke gammelte ein Ständer mit verstaubten Zeitungen vor sich hin. Die Zeitungen waren schon alt gewesen, als sie das erste Mal hier gewesen war, und wahrscheinlich waren es immer noch dieselben. Die Leute von Schwarzenmoor schienen sich nicht sonderlich für das zu interessieren, was in der Welt vor sich ging.