»Nicht Andy, Liz«, flüsterte er. »Bitte tun Sie... ihr nichts. Sie kann nichts... nichts dafür.«
Liz starrte ihn an, dann den verkrümmten, nackten weißen Körper wenige Schritte neben ihm. Er hatte nichts von dem mitbekommen, was geschehen war.
Und es war auch besser so.
»Passen Sie... auf sie auf«, flüsterte Peter. »Bitte ... kümmern Sie sich... um sie.«
»Das werde ich«, versprach Liz. »Niemand wird ihr etwas zuleide tun, Peter. Das verspreche ich.«
Als sie das nächste Mal auf ihn her absah, war er tot. Der Anblick ließ bittere Übelkeit in ihrer Kehle emporsteigen. Und Zorn. Kalten, mörderischen Zorn. O ja, sie würde sich um Andy kümmern. Und um Stefan, denn in einem Punkt hatte Peter recht gehabt, ohne es auch nur zu ahnen: sie konnten beide nichts dafür. Es gab sie nicht mehr. Andy und Stefan waren längst tot, gestorben spätestens gestern morgen im See, und was an ihrer Stelle aus dem Wald gekommen war, waren... Kreaturen gewesen. Lebens große, täuschend echt nachgeahmte Puppen, die die Rolle der Lebenden übernommen hatten, für den letzten Tag. Vorsichtig ließ sie seinen Kopf zu Boden gleiten, stand auf und ging zum Kofferraum des Wagens. Das Schloß war nicht eingerastet, so daß sie nicht in die Verlegenheit kam, es irgendwie aufbrechen zu müssen. Sie klappte den Deckel hoch, schlug die zerschlissene Decke beiseite, die darunter lag, und griff mit beiden Händen zu. Die Anstrengung, den schweren Zwanzig-Liter-Kanister hochzustemmen, überstieg beinahe ihre Kräfte, aber sie schaffte es. Liz arbeitete rasch und sie ging sehr methodisch vor. Sie verschwendete nicht viel Benzin an den Wagen, eine kleine Pfütze unter dem Tank war vollkommen ausreichend, um den Jaguar in ein Fünfzigtausend-Mark-Feuerwerk zu verwandeln. Der scharfe Geruch des Benzins überdeckte den Blutgestank, als sie eine dünne, aber nicht unterbrochene Spur um den Wagen her umzog, ein wenig mehr Benzin auf Peters Leichnam und dann sehr viel mehr auf den des Mädchens kippte. Der Kanister war zur Hälfte geleert, als sie das Scheunentor erreichte. Sie blieb stehen und sah zum Haus hinüber. Es stand da, eingehüllt in eine Säule aus Dunkelheit wie in schwarz leuchtenden, trägen Nebel, ein kleines, böses, gedrungenes Etwas, dessen Konturen nicht ganz genau zuerkennen waren. Sie lösten sich auf in der Schwärze, die über dem Hof lastete. Es war ihr Traum. Es war das, was sie in ihrem Traum ganz am Beginn dieser Terror-Story gesehen hatte. Nur etwas fehlte noch.
Rasch, aber ohne Hast, machte sie weiter. Sie zog die Benzinspur ein kleines Stückchen aus der Scheune heraus, bis sie begriff, daß der strömende Regen den Treibstoff schneller wegwusch, als sie ihn aus kippen konnte. Nun gut - dort drinnen war so gut wie hier draußen. Es spielte keine Rolle, wo sie starb. Sie ging in die Scheune zurück und leerte den ganzen Rest aus dem Kanister unmittelbar hinter der Tür aus. Der Benzingestank war so stark, daß er ihr fast den Atem nahm. Sie warf den leeren Kanister achtlos fort, sah noch einmal zum Haus hinüber und ging zum Jaguar zurück. Auf der anderen Seite des Hofes, im Haus, klappte eine Tür, als sieden Wagen erreichte. Sie öffnete die Tür auf der Beifahrerseite, klappte das Handschuh fach auf und fand die angebrochene Packung Zigaretten, die sie bei ihrer letzten Heimfahrt aus Schwarzenmoor hineingeworfen hatte. Ihre Finger zitterten ganz leicht, als sie den Zigarettenanzünder in die Fassung drückte.
Schritte näherten sich der Scheune. Schwere, stampfende Schritte, viel zu wuchtig für die eines Menschen, ein dumpfes, unendlich kraftvolles Stampfen, die Schritte von etwas ungeheuer Großem, ungeheuer Starkem und ungeheuer Bösem.
Sie wartete, bis Stefans Schatten unter der Tür erschien, ehe sie die Zigarette in Brand setzte.
Er blieb stehen, als er die Tür erreichte. Wenn er den Benzingeruch überhaupt bemerkte, dann reagierte er nicht darauf, denn er stand so perfekt in der Mitte der Benzin lache, als hätte sie selbst ihn dort plaziert. Aber Liz bezweifelte, daß er die Gefahr registrierte, in der er schwebte. Soviel sie wußte, hatte es vor sechshundert Jahren noch kein Superbenzin gegeben.
»Du wolltest fort?« fragte er. Seine Stimme war kalt, wie aus uraltem Stahl gehämmert. Obwohl sie ihn noch immer nur in Form eines flachen Schattens erkennen konnte, spürte sie seinen Blick, den Blick aus schwarzen, lichtlosen Augen, in denen keine Pupillen mehr waren.
»Nein«, antwortete sie. »Ich habe auf dich gewartet.«
Stefan schwieg. Der Schatten bewegte den Kopf, blickte auf den Wagen, einen Moment lang auf Peters Leichnam, dann auf den des Mädchens.
»Hast du sie getötet?«
Liz antwortete nicht, und er lachte leise. »Das ist gut. Du hast mir Arbeit abgenommen. Ich wußte, daß du tapfer bist. Trotzdem habe ich dich unterschätzt. Beinahe wärst du mir wirklich entkommen, weißt du das? Aber es hätte nichts genutzt.«
»So?« fragte Liz. Sie sog an ihrer Zigarette, die in heller Rotglut aufflammte. Der Rauch brannte wie Feuer in ihren Lungen.
Der Schatten unter der Tür schüttelte den Kopf. »Niemand entkommt mir, den ich einmal zum Opfer auserkoren habe.«
Wieder sog sie an ihrer Zigarette, zog den Rauch so tief in die Lungen, daß ihr schwindelig wurde, und trat einen Schritt auf ihn zu. »Du bist nicht mehr Stefan«, sagte sie.
Der Schatten schüttelte den Kopf. »Nein.«
»Und dieses Ding da ...« Sie deutete auf Andy und nutzte die Gelegenheit, einen weiteren Schritt auf ihn zuzumachen. »... ist nicht mehr Andy.«
»Nein.«
»Was hast du mit ihnen gemacht?« fragte Liz.
»Sie sind da, wo auch du bald sein wirst.«
»Sie sind tot.«
»Nein.« Das entsetzliche Ding in Stefans Gestalt lachte leise und meckernd. Es war ein Laut, der Liz einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ. Wenn es einen leibhaftigen Teufel gab, dachte sie, und wenn er lachte, dann mußte es sich so anhören. »Es gibt keinen Tod, Opfer. Nicht in dem Sinn, in dem ihr das Wort benutzt.«
»Und was kommt danach?«
»Nichts, was du verstehen würdest«, kicherte das DING. »Aber es ist anders, als ihr denkt. Völlig anders.« Es kicherte, schrill und ausdauernd, als hätte es einen guten Witz gemacht, dann konnte sie spüren, wie seine Stimmung jäh um schlug.
»Es ist soweit«, sagte das Etwas, das einmal Stefan gewesen war. »Aber ich bin kein Unmensch. Du hast noch Zeit, deine Zigarette zu rauchen - das ist doch bei euch Sitte, nicht?«
»Ja«, sagte Liz. »Aber es ist nicht nötig. Ich wollte mir sowieso das Rauchen abgewöhnen, weißt du?«
Und damit schnippte sie ihm die Zigarette genau vor die Füße.
Sie hatte sich noch nie im Leben so sehr auf eine einzige Bewegung konzentriert, und der Wurf war so perfekt, wie er nur sein konnte: die brennende Zigarette beschrieb eine mathematisch exakte Parabel, ein winziger Stern, der eine Spur aus rot glühenden kleinen Funken hinter sich herzog und dessen Bahn exakt zwischen Stefans Beinen endete.
Und trotzdem dachte sie für einen kurzen, entsetzlichen Moment, daß alles vergebens gewesen sein könnte, denn das Benzin fing kein Feuer. Die Zigarette rollte zur Seite, ein hörbares Zischen erklang, und nur ein einzelnes, fingernagelgroßes blaues Flämmchen zischte hoch. Der lehmige Boden hatte das Benzin aufgesogen, oder es war verdunstet, oder Stefans Magie machte ihren Angriff unwirksam.
Stefan lachte leise - In seinen schwarzen Tieraugen war ein spöttisches Glitzern, als er sich vorbeugte und die Hand nach der Zigarette ausstreckte.
Dann explodierte er.
Alles geschah im Bruchteil einer Sekunde, aber wieder sah Liz jedes noch so winzige Detail mit fast übernatürlicher Schärfe. Das kleine blaue Feuerkind zwischen seinen Füßen wuchs zu einer brüllenden, grellweißen Stichflamme, die sich seiner ausgestreckten Hand entgegen warf und sie verschlang, seinen Arm, seine Schulter und dann seinen ganzen Körper einhüllte und sich brüllend immer noch weiter in die Höhe wälzte, bis sie fast gegen das Scheunendach stieß. Gleichzeitig breitete sich ein Teppich aus blau weißen, zischenden Flammen rings um ihn auf dem Boden aus, und auch aus Stefans Körper selbst schien Feuer zu brechen, als brächte die Hitze irgend etwas in ihm zum Explodieren. Seine Gestalt verschwamm, wurde scheinbar durchsichtig und verschwand schließlich hinter einem Mantel aus grellweißem Licht. Die Hitzewelle traf sie wie ein Faustschlag und ließ sie zurücktaumeln. Liz schrie auf, riß schützend die Arme vor das Gesicht und wankte zur Seite, weg von Stefan, weg vom Feuer und vor allem weg vom Wagen. Eine kerzengerade Feuerspur raste auf Andys Leichnam zu, ließ ihn hell auflodern und jagte weiter, im rechten Winkel auf Peter und den Jaguar los, und auch über ihr unter dem Dach brannte es jetzt schon. Die Hitze nahm ihr den Atem. In ihren Lungen schien plötzlich nur noch flüssiges Feuer zu sein, keine Luft mehr, und sie konnte nicht mehr richtig sehen. Das Innere der Scheune verwandelte sich in ein Muster aus abgrundtief schwarzen Löchern und Bereichen unerträglich gleißender Helligkeit, von unsichtbaren Fäden tödlicher Hitze durchwoben.