Als er fertig war, türmte sich vor ihr ein Berg von Tüten und Paketen, über den sie kaum noch hinwegsehen konnte.
Beldersen grinste und entblößte dabei eine Doppelreihe bräunlicher Stummel, wo früher einmal Zähne gewesen waren. Ein Zahnarzt schien nicht zu den Errungenschaften der modernen Zivilisation zu gehören, die bis Schwarzenmoor vorgedrungen waren. »Alles in Ihren Wagen, wie üblich?« fragte er feixend. Liz zögerte einen Moment. Sie hatte noch nicht die Hälfte von dem zusammen, was sie eigentlich brauchte - aber der Berg vor ihr war schon jetzt fast mehr, als der Jaguar verkraften konnte. Sie würde so oder so noch einmal fahren müssen, dachte sie resignierend.
Sie nickte ergeben und nahm sich einen Teil der Sachen, während Beldersen sich den Rest griff, damit zur Tür balancierte und sie mit dem Fuß öffnete. Er brachte sogar das Kunststück fertig, auf einem Bein zurückzuhüpfen und die Tür dabei für sie mit dem anderen Fuß aufzuhalten, ohne das Gleichgewicht zu verlieren, obwohl er unter der Last der Pakete und Tüten fast zusammenzubrechen schien.
Sie schloß geblendet die Augen, als sie das Geschäft verließ und in das grelle Sonnenlicht hinaustrat. Es war heiß geworden, während sie im Laden gewesen war. Die Luft schien zu flimmernden Klumpen geronnen zu sein, und sie rang unwillkürlich nach Luft, als sie mit vollbeladenen Armen hinter Beldersen auf den schmalen Gehsteig hinausbalancierte. Das Licht ließ die Konturen der Häuser klar und mit beinahe schmerzhafter Deutlichkeit hervortreten, wie schwarze Scherenschnitte, die mit Linien aus Gold umrandet waren. Die Straße glänzte, als wäre sie mit flüssigem Blei übergossen, und aus den Fensterscheiben sprangen ihr kleine, schmerzhafte Lichtpfeile in die Augen.
Der Jaguar war ein greller Farbklecks auf der anderen Straßenseite, ein störendes Etwas, das häßlich gegen die pastellfarbenen Häuser und die zu schwarzen, lautlosen Schatten gewordenen Menschen ringsum kontrastierte. Für einen Moment wirkte alles in ihrer Umgebung sonderbar irreal; ein Stück aus einem Bild von Dali, das zu bizarrem Leben erwacht war.
Sie benötigte fast eine Viertelstunde, um alles im Wagen zu verstauen, und als sie fertig war, türmten sich Tüten und Pakete auf der schmalen Rückbank und im Fußraum von dem Beifahrersitz.
Liz betrachtete das Durcheinander und seufzte tief. Sie hatte den Versuch, Stefan zum Kauf eines größeren Wagens zu bewegen, längst aufgegeben. Dafür beschwerte er sich auch nicht, wenn er seinen Platz mit Paketen und Päckchen teilen mußte und kaum noch die Füße aufs Gaspedal bekam. Aber irgendwann, dachte sie resignierend, würde eine ihrer Heimfahrten auf diese Weise im Moor oder vor einem Baum enden. Sie öffnete das Handschuh fach und zog Scheckbuch und Kugelschreiber hervor, legte beides im letzten Augenblick wieder zurück und griff statt dessen nach der Brieftasche. Auch das war etwas, was sie erst mühsam hatte lernen müssen - man bezahlte in Schwarzenmoor seine Lebensmittel-rechnungen nicht mit einem Euroscheck. Beldersen hatte niemals wirklich etwas gesagt, aber sie hatte seinen Widerwillen sehr deutlich gespürt, und es hatte lange gedauert, bis sie herausgefunden hatte, daß die Leute hier unter dem Wort Geld noch richtiges Geld aus Papier oder Metall verstanden, kein Plastik-Geld, dessen Wert sie selbst einsetzen konnten. »Wie viel?«
»Hundert siebenunddreißig.«
Sie zählte die Summe ab - wie üblich ein wenig erstaunt, wie gering sie angesichts der ungeheuren Menge von Dingen war, die sie aus Beldersens Laden herausgetragen hatten - und gab sie ihm. Ein leises Ekelgefühl breitete sich in ihr aus, als er mit seiner verkrüppelten Hand danach griff, die Scheine achtlos zusammenfaltete und sie zusammen mit einer Handvoll Kleingeld in der Tasche seines speckigen Kittels verschwinden ließ. »Danke.«
»Nichts zu danken. Es steht Ihnen zu.«
Beldersen starrte sie einen Sekundenbruchteil lang mit einem undeutbaren Blick an, tippte sich zum Abschied mit Zeige- und Mittelfinger an den Rand einer nicht vorhandenen Mütze und ging zum Laden zurück.
Nach einem letzten, stirnrunzelnden Blick auf das Chaos im Wagen drehte sie sich um und ging zum Gasthaus hinüber. Das war einer der Vorteile dieses gottverlassenen Kaffs, dachte sie spöttisch: sie konnte all diese Sachen unbesorgt im Wagen liegen lassen. Niemand würde etwas davon wegnehmen oder auch nur verändern.
4.
Das grelle Mittags licht blieb hinter ihr zurück, als sie den Dorfkrug betrat. Wieder war sie für einen Moment fast blind, und nach der Hitze draußen empfand sie die kühle, nach abgestandenem Bier und kaltem Rauch riechende Luft beinahe als unangenehm.
Der Dorfkrug war so typisch wie Beldersens Laden: es gab eine uralte, von Brandflecken und Ringen übersäte Theke deren Holz fast schwarz war, ein gewaltiges Flaschenregal und eine überraschend moderne Zapfanlage aus blitzendem Chrom und Messing. Nicht zum ersten Mal, seit sie in Schwarzenmoor war, schoß ihr der Gedanke durch den Kopf, wie sehr hier alles ganz genau so aussah, wie man es in einem Dreihundert-Seelen-Dorf fünf Meter vor dem Ende der Welt erwartete. Fast, als gebe sich jedermann hier Mühe, ganz genau nicht unbedingt dem Durchschnitt, aber den Klischees zu entsprechen, die man dafür halten mochte. Oder nicht aufzufallen ...
Sie entdeckte Stefan zusammen mit Ohlsberg und einem dritten Mann in der hintersten Ecke des trapezförmigen Raumes, bestellte im Vorbeigehen ein Bier und schlängelte sich in einem geschickten Slalomkurs durch das geordnete Durcheinander aus Stühlen und Tischen, das im Moment allerdings verwaist war.
»Frau König.« Ohlsberg schenkte ihr ein knappes Nicken und sog an seiner Pfeife. »Ihr Mann hat Ihnen sicher schon erzählt... ?« Er machte sich nicht einmal die Mühe, aufzustehen oder ihr mehr als einen flüchtigen Blick zu gönnen, als sie den Tisch erreichte. Er mochte Liz nicht besonders, aber das störte sie nicht, denn es war ein Gefühl, das durchaus auf Gegenseitigkeit beruhte.
Sie nickte. »Ja. Sie haben jemanden gefunden, der bei uns arbeiten kann?« Sie wandte den Kopf und sah den dritten Mann an. »Sie, vermute ich.« Sie richtete die Frage ganz bewußt nicht an Ohlsberg, obwohl sie bezweifelte, daß er die kleine Spitze überhaupt bemerkte.
»Ja.«
Der Mann war klein, kleiner noch als sie und unglaublich schmal. Er war auf die hier übliche Art gekleidet - schwere, große Baumwollhosen in einem undefinierbaren Farbton irgendwo zwischen Blau und Schwarz, ein dunkelgrünes Hemd, über dem sich abgewetzte Hosenträger spannten. Auf der Lehne seines Stuhles hing eine dazu passende Jacke mit zahllosen Taschen, die aussah, als wöge sie mindestens einen Zentner. Aber er schien all diese Sachen von einem mindestens fünfzig Pfund schwereren großen Bruder geerbt zu haben, denn das Hemd schlabberte um seine schmalen Schultern, und unter der Hose, deren Beine ein Stück zu kurz waren, kamen unglaublich dünne (und unglaublich schmutzige) Beine zum Vorschein. Wäre sein bärtiges, zerfurchtes Gesicht nicht gewesen, hätte sie im Halbdunkel des Raumes geglaubt, einem Halbwüchsigen gegenüberzusitzen. Aber die abgearbeiteten, starken Hände, die vor ihm auf der Tischplatte lagen und nervös mit einem Bieruntersetzer spielten, sagten ihr, daß der Mann kräftig zupacken konnte. Er mochte schmal sein, aber er war zweifellos sehr zäh; und wahrscheinlich war er sehr viel stärker, als sein Aussehen vermuten ließ. Seine Augen waren dunkel und lagen tief zurückgezogen unter buschigen Brauen, die in der Mitte fast zusammengewachsen waren. In ihrem Blick war etwas, das Liz gleichermaßen faszinierte wie ab stieß.
Stefan schob den Stuhl zurück und machte eine einladende Geste. »Das ist Peter«, erklärte er aufgeräumt, nachdem sie sich gesetzt hatte. »Peter Heyning. Er kann gleich mitkommen. Er ist sofort frei. Ist das nicht herrlich?«