»Du wirst albern«, stellte Stefan fest - womit er sogar recht hatte. Aber gerade das ärgerte sie noch mehr. »Du mußt einfach einsehen, daß Ohlsberg hier der Boß ist. Die Leute tun, was er sagt, und das allein zählt. Wenn wir uns mit ihm gut stehen, dann haben wir gewonnen. Ist es wirklich so viel verlangt, in der Öffentlichkeit ein bißchen Theater zu spielen?« Hätte er angehalten und sie ins Gesicht geschlagen, hätte sie nicht schockierter sein können. Sie starrte ihn fassungslos an, suchte sekundenlang nach Worten und sah schließlich irritiert weg. Das war nicht der Stefan, den sie kannte. Aber sie wollte jetzt nicht mit ihm streiten, nicht noch mehr, als sie es ohnehin schon getan hatte, und darauf wäre es hinausgelaufen, wenn sie jetzt weitergemacht hätte.
Wahrscheinlich lag es sowieso an ihr, versuchte sie sich einzureden. Den ganzen Tag über war sie gereizt und überempfindlich gewesen, und auch das vorzügliche Mittagessen, das sie in dem kleinen Lokal zu sich genommen hatten, hatte daran nichts ändern können - auch das beste Essender Welt schmeckt schal, wenn man es schlecht gelaunt in sich hinein stopfte und genau das hatte sie getan.
Sie überlegte, ob ihr Erlebnis von heute morgen vielleicht irgendwie damit zu tun hatte.
Es war möglich. Sogar wahrscheinlich. Sie war von jeher Realistin gewesen und eine Pragmatikerin dazu. Wenn es in ihrer Umgebung etwas gab, was sie sich nicht erklären konnte, dann machte sie das nervös. Und überdies war sie mittlerweile soweit, ihr unerklärliches Erlebnis endgültig unter dem Begriff Traum abzuhaken. Träume, das wußte sie, konnten unglaublich realistisch sein.
Aber trotzdem schwieg sie während des gesamten Rückweges. Als sie den Hof erreicht hatten, half sie Stefan, die Sachen ins Haus zu bringen. Dann bat sie ihn um die Wagenschlüssel.
»Du willst noch einmal weg?« fragte er überrascht.
»Ja.«
»Wohin?« fragte Stefan, nachdem er eine Weile vergeblich darauf gewartet hatte, daß sie es von sich aus sagte.
Einen Moment lang überlegte sie, ob sie ihm die Wahrheit sagen sollte, aber dann entschied sie sich dagegen. Er würde es sowieso merken - wahrscheinlich ahnte er es ohnehin schon -, aber sie hatte keine Lust, sich schon vorher mit ihm zu streiten. Die Szene, die er ihr hinterher machen würde, war genug. Mehr als genug.
»Zum See«, log sie. »Ich möchte noch baden.«
»Jetzt?« Stefan legte überrascht den Kopf in den Nacken und blinzelte demonstrativ in den Himmel. »Es ist in einer Stunde dunkel. Spätestens«, fügte er hinzu. »Ich habe gesagt, daß ich noch baden möchte«, sagte sie gereizt. »Ich habe nicht gesagt, daß ich draußen übernachte.«
Stefan zuckte mit den Achseln und gab ihr die Schlüssel. Einen Moment lang kreuzten sich ihre Blicke, und für diesen Moment war sie fast sicher, daß er genau wußte, was sie vorhatte - aber er sagte kein Wort, sondern zuckte nur noch einmal die Achseln und drehte sich um, um ins Haus zurückzugehen.
Sie stieg ein, wendete den Wagen und verließ das Grundstück. Stefan hatte recht - es würde in spätestens einer Stunde dunkel sein. Aber der Wagen war schnell, und auf den letzten Kilometern war die Straße noch einigermaßen in Ordnung, so daß sie Zeit gewinnen konnten. Sie gab Gas und preschte los. Der Jaguar schlingerte wie ein kleines Boot auf stürmischer See. Die Reifen kreischten protestierend, als sie auf den Waldweg hinaus jagte. Erdreich und Schlamm spritzten in hohen braunen Fontänen unter den Kotflügeln hervor, und von Zeit zu Zeit kratzte ein tief hängender Ast über das Blech. Blätter peitschten wie nasse grüne Hände gegen die Windschutzscheibe. Aber Liz war eine ausgezeichnete Fahrerin. Bereits nach wenigen Minuten hatte sie den eigentlichen Wald erreicht. Die Bäume bildeten hier ein stummes Spalier, einen hohen, schweigenden Dom, der selbst während der hellen Mittagsstunde den größten Teil des Sonnenlichts aus filterte. Jetzt, kurz vor Einbruch der Dämmerung...
... vor Einbruch der Dämmerung? Aber...
... war es hier bereits dunkel. Sie schaltete die Scheinwerfer ein und fuhr weiter, so schnell es der Zustand des Weges und das schwächer werdende Licht erlaubten. Der Wagen brach wie ein brüllender Schemen aus rot lackiertem Blech und Chrom in den Wald ein und vertrieb mit seinem Lärm und dem grellen Weiß seiner Halogenscheinwerfer alles Leben in weitem Umkreis.
Sie fuhr schnell und konzentriert. Wie viel Kilometer konnte ein Mensch in sieben, acht Stunden zurücklegen? Sie war nie ein großer Fußgänger gewesen, aber sie schätzte, daß es nicht mehr als fünfzehn oder zwanzig sein konnten. Sie würde Heyning also wahrscheinlich irgendwo auf der Hälfte des Weges auflesen, denn er war noch einmal zurückgegangen, um sein Gepäck zu holen.
Einen Moment lang fragte sie sich, was sie tun würde, wenn sie ihn nicht irgendwo unterwegs traf - was, wenn er noch nicht zurück in Schwarzenmoor war oder einen anderen Weg nahm, vielleicht quer durch die Wälder? Sie wußte ja nicht einmal, wo der Hof lag, auf dem er bisher gearbeitet hatte. Sie wußte so erbärmlich wenig über alles hier - die Stadt, ihre Geschichte, ihre Gesetze, ihre Menschen - vor allem ihre Menschen. Plötzlich verspürte sie ein unbändiges Verlangen nach einer Zigarette. Sie nahm etwas Gas weg, beugte sich über den Beifahrersitz und wühlte eine Zeitlang hektisch im Handschuh fach herum, bis sie Feuerzeug und Zigaretten gefunden hatte. Die Packung war zerknittert und enthielt nur noch eine einzige verbogene Zigarette. Sie steckte sie sich zwischen die Lippen, strich sie mit Zeige- und Mittelfinger glatt und ließ das Feuerzeug aufschnappen. Die kleine blaue Gas flamme brach sich im Spiegel und ließ sie aufsehen. Ihr eigenes Gesicht erschien ihr seltsam fremdartig. Das flackernde Licht der winzigen Gas flamme überzog ihr Spiegelbild mit einem verwirrenden Spiel von Schatten und hellen und dunklen Flecken und ließ sie Falten und Linien erkennen, wo keine waren. Für einen winzigen Moment hatte sie das Gefühl, in die Augen einer Fremden zu blicken. Aber der Gedanke entschlüpfte ihr, ehe sie ihn richtig fassen konnte.
Sie war sich darüber im klaren, daß sie sich im Grunde nicht anders als ein trotziges Kind benahm. Genau die Art von Trotz, die sie an Stefan so haßte und ihm bei jeder Gelegenheit vor hielt, dachte sie spöttisch. Es war nur Trotz - und die Reaktion auf die Befremdung, die Stefans Verhalten in ihr ausgelöst hatte; fast schon ein Schock. Sie kannte ihn seit sechs Jahren, und trotzdem hatte sie plötzlich das Gefühl gehabt, neben einem Fremden zu sitzen. Aber Entfremdung war ein Prozeß, der sich über Monate und Jahre da hinzog - oder?
Aber wenn es das nicht war - was war dann in den wenigen Minuten geschehen, die Stefan mit Ohlsberg und Heyning allein gewesen war?
Sie zog noch einmal an ihrer Zigarette, schnappte sie mit einer wütenden Bewegung aus dem Wagen und beobachtete den winzigen Glutpunkt sekundenlang im Rückspiegel, ehe er erlosch.
Sie war jetzt seit fast zehn Minuten unterwegs. Aber es dauerte noch einmal Minuten, ehe ihr die Veränderung auffiel.
Der Wald hatte sich verändert.
Der Gedanke schien absurd, im ersten Moment, aber es war so: Das war nicht mehr der Wald, den sie vom Fenster ihres Schlafzimmers aus sehen konnte.