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Sie warf einen flüchtigen Blick auf den Tachometer, dann auf die Uhr, und ein neuerlicher kalter Schauer durchfuhr sie, als ihr klar wurde, welche Entfernung sie in den wenigen Minuten zurückgelegt hatte. Nicht nur Angst konnte töten, sondern auch ein Baum, vor den der Jaguar mit achtzig Stundenkilometern setzte. Sie hatte sich wirklich wie eine Närrin benommen. Wäre Heyning nicht aufgetaucht, hätte sie sich an einem der nächsten Bäume den Schädel eingefahren. Ihre Hände, die noch immer das Lenkrad umklammerten, zitterten plötzlich. Aber sie konnte sie wenigstens bewegen.

Sie kuppelte ein, fuhr zwei Meter weiter und hielt direkt vor Heyning an. »Steigen Sie ein«, sagte sie. Sie wunderte sich ein wenig, wie ruhig und gelassen ihre eigene Stimme in ihren Ohren klang. Dabei zitterte sie noch immer so heftig, daß sie Mühe hatte, sich zur Seite zu beugen und den Riegel zu ziehen. Die Tür sprang mit jenem leisen, saugenden Geräusch auf, das das wirklich teure Auto verriet. Sie hoffte inständig, daß Heyning nichts von ihrem Zustand bemerkte.

Heyning blinzelte sie nicht verstehend an und rührte sich nicht von der Stelle. Liz öffnete die Tür, stieg aus und klappte den Kofferraumdeckel hoch. »Hier. Tun Sie Ihr Gepäck hinein. Und beeilen Sie sich«, sagte sie. Als er immer noch zögerte, fügte sie ungeduldig hinzu: »Es ist spät.«

Heyning glotzte nur unverstehend - und plötzlich fiel es ihr wie Schuppen von den Augen.

Es war nicht spät.

Es war früher - sehr früher - Nachmittag gewesen, als sie Schwarzenmoor verließen, und trotz der schlechten Straße und allem anderen war aller höchstens eine Stunde vergangen seither. Die Sonne am Himmel hatte kaum den Zenit überschritten. Aber Stefan hatte doch gesagt, es würde in höchstens einer Stunde dunkel. Und sie hatte die Nacht gesehen, die wie ein schwarzes Leichentuch vom Himmel gefallen war, die Dunkelheit, die den Wagen einschloß wie ein schwarzer Kokon und die Ziffern auf ihrer Uhr, der an ihrem Handgelenk und der im Armaturenbrett und... Verstört, aber absolut nicht gewillt, sich über dieses neue Rätsel auch nur eine weitere Sekunde den Kopf zu zerbrechen, drehte sie sich um, ließ sich hinter das Lenkrad sinken und gestikulierte Peter unwillig, neben ihr Platz zunehmen.

Heyning gehorchte widerwillig. Er sprach kein Wort, auch dann noch nicht, als er die Tür zugezogen hatte und Liz den Wagen wendete. Für Minuten mußte sie ihre ganze Konzentration darauf verwenden, den Wagen auf dem schmalen Pfad zu wenden, ohne vom Weg abzukommen. Sie fuhr den Weg zurück, langsamer diesmal. Wesentlich langsamer. Die Schrecken waren verflogen und hatten sich dorthin zurückgezogen, wo sie hingehörten. Aber es war eine gute Lektion gewesen, dachte sie, trotz allem. Das Grauen wird nicht kleiner, wenn man weiß, daß man es sich nur einbildet.

6.

Als sie aus dem Wald heraus waren und der Hof in Sichtweite unter ihnen lag, hielt sie an.

»Warum ... halten Sie an?« Heyning sah überrascht auf. Es waren die ersten Worte, die er sagte, seit sie ihn aufgelesen hatte.

»Ich möchte mich mit Ihnen unterhalten«, antwortete Liz. Sie versuchte zu lächeln, aber es gelang ihr nicht. Der Schreck saß ihr noch zu deutlich in den Knochen. Sie bildete sich nur ein, wieder vollkommen ruhig zu sein, aber sie war es nicht. »Hier?« Heyning blickte irritiert aus dem Wagen und rang mit den Händen. Sie nickte. »Warum nicht.«

»Bitte.« Heyning zuckte mit den Achseln. »Fragen Sie. Ich werde antworten, Madam. Wenn... wenn ich es kann.«

Liz schüttelte verärgert den Kopf. »So nicht, Heyning... Peter. Darf ich Peter zu Ihnen sagen?«

Er nickte. »Gern, Madam. Alle sagen Peter zu mir«, erklärte er mit einem scheuen Lächeln. Er begann unruhig auf seinem Sitz hin und her zu rutschen, kramte in den Taschen seines zerschlissenen Jacketts und förderte schließlich eine zerschrammte blecherne Zigarettendose zutage.

»Darf ich... ich meine, haben Sie etwas dagegen, wenn... wenn ich rauche?« fragte er ängstlich. Seine Stimme klang tatsächlich ängstlich! dachte Liz verwirrt. So, als hätte er sie gefragt, ob er sie küssen dürfe! Was um Gottes willen hatte man mit diesem Mann getan? Liz schüttelte den Kopf. »Es stört mich nicht«, antwortete sie, und fügte mit einem Lächeln hinzu: »Wenn Sie mir auch eine geben.«

Er hielt ihr die Blechdose hin und gab ihr mit zitternden Fingern Feuer. Es waren starke, selbst gedrehte Zigaretten, die im Hals kratzten und im ersten Moment ein leichtes Schwindelgefühl auslösten, aber nachdem sie sich dar angewöhnt hatte, schmeckten sie gut. Sie nahm einen Zug und betrachtete sein Gesicht im Widerschein der Glut. Wie alt, hatte er gesagt, war er? Sechsunddreißig? Jetzt, als sie ihm auf so geringe Entfernung gegenüber saß, konnte sie das kaum glauben. Sicher - der Bart ließ ihn älter erscheinen, und die Sonne hatte tiefe Linien in sein Gesicht gegraben. Aber seine Augen waren jung. Jung, voller Kraft und ... ja, und noch etwas, etwas, für das ihr im Moment noch keine passende Bezeichnung einfiel. Wie vorhin im Dorfkrug, als sie ihn das erste Mal gesehen hatte, wußte sie auch jetzt wieder nicht, ob er ihr wirklich gefiel oder sie ab stieß.

Es war verwirrend.

Heyning begann erneut unruhig auf dem Sitz hin und herzu rutschen.

Sie lächelte. »Nervös?«

Er schüttelte den Kopf, dann nickte er. »Nein... ich...ich...«

»Sie brauchen nicht nervös zu sein. Ich will nur mit Ihnen reden.«

»Das weiß ich, Ma'am.« Zum ersten Mal fiel ihr auf, daßer das Wort auf die englische Art aussprach: Er sagte deutlich: Ma'am, nicht Madam. Das hatte sie bisher nur gehört, weil sie es zu hören erwartet hatte.

»Na also.« Sie nahm einen neuen Zug, blies den Rauch in den Wald hinaus und fragte, ohne ihn anzusehen: »Warum wollen Sie für uns arbeiten, Peter?«

»Ich - ich verstehe nicht. Ihr Mann...«

»Was mein Mann gesagt hat, interessiert mich im Augenblick nicht«, schnappte sie. Er zuckte zusammen und senkte unwillkürlich den Blick, und ihr unnötig scharfer Ton tat ihr fast augenblicklich leid. Sie lächelte entschuldigend. »Sehen Sie, Peter, es gibt da ein, zwei Punkte, die ich nicht verstehe. Seit sechs Monaten suchen wir Personal, und niemand hat sich bereit gefunden, auch nur die Hühner für uns zu füttern. Und plötzlich ist jemand da, und der Bürgermeister drängt ihn uns auch noch fast auf. Wie kommt das?«

»Ich - meine Herren sind gestorben, und...«

Er sagte Herren, dachte Liz schaudernd, nicht Herrschaften. Zum Teufel - das war die Art, wie Sklaven redeten und dachten! Wieder stieg Zorn in ihr hoch. »Was hat Ohlsberg Ihnen geboten, damit Sie bei uns arbeiten?« fragte sie gerade heraus.

Das Erschrecken auf seinem Gesicht, sagte ihr, daß ihr blinder Vorstoß genau ins Schwarze getroffen hatte. »Nichts. Er hat mir - nichts...« Er brach ab und starrte zu Boden.

Liz kam sich plötzlich gemein und hinterhältig vor. Sie wußte nicht einmal andeutungsweise, was dieser Mann erlebt hatte, aber er mußte Furchtbares durchgemacht haben, das spürte sie einfach. Es war der Instinkt der Frau in ihr, der sie in Peter vor allem das verwundete, ängstliche Wesen erkennen ließ, einen Mann, der einfach zu viel erlebt, zu viel gelitten hatte, um noch irgend jemandem trauen zu können; und ihr, der Fremden, dem Eindringling, am allerwenigsten. Er war total verstört, mehr noch, verängstigt. Einer plötzlichen Eingebung folgend, legte sie die Hand in einer beruhigenden Geste auf seine Schulter.