Er zuckte zusammen, und sie zog ihre Hand hastig zurück, unterdrückte im allerersten Moment eine Entschuldigung.
»Hören Sie, Peter«, fuhr sie in sanfterem Ton fort. »Ich will Ihnen nichts tun. Es ist nur so ... sehen Sie, als wir uns heute morgen zum ersten Mal begegnet sind, da habe ich gleich gemerkt, daß mit Ihnen irgend etwas nicht stimmte. Sie sind kein sehr guter Schauspieler, wissen Sie. Ohlsberg hat Sie geschickt, stimmt's?«
Der plötzliche Wechsel ihrer Taktik war zu viel für ihn. Sie spürte, daß sie gewonnen hatte, lange bevor er auf sah. Und sie konnte sehen, welcher innere Kampf sich hinter seiner Stirn abspielte, ehe er zögernd nickte.
Das Gefühl, etwas Gemeines zu tun, wurde stärker in ihr. Welche Chance hatte ein Mann wie Heyning gegen sie? Sie, die erfahrene, gebildete Frau, die in ihrem Leben schon mit Hunderten von prominenten und wichtigen Leuten gesprochen hatte, die es gewohnt war, mit Managern und Filmbossen zu verhandeln? Es war nicht fair. Aber sie würde weitermachen, auch wenn sie sich hinterher noch elender fühlte. Heyning würde ihr keine zweite Chance geben. Sie hatte ihn überrumpelt, diesmal noch, aber sie kannte diesen Typ von Mensch. Er war nicht stark, gewiß nicht, aber wenn er einmal eine Gefahr erkannt hatte, dann verstand er ihr mit einem schon beinahe übernatürlichen Geschick auszuweichen. Er würde ihr nie wieder die Chance geben, ihn so in die Enge zu treiben.
»Also?« Der Tonfall ihrer Stimme duldete keinen Widerspruch.
»Er hat... mich gezwungen.«
»Gezwungen? Womit?«
»Ma'am!« In seine Augen trat ein bittender Ausdruck, fast Wie ein Flehen. »Sehen Sie, Peter«, begann Liz von neuem, »ich will Ihnen doch nichts Böses. Ich will Ihnen helfen. Ich kann Ohlsberg genausowenig leiden wie Sie. Aber Sie müssen mir schon etwas mehr erzählen.«
»Bitte ... Sie... Sie werden mir kündigen...«
»Quatsch. Ich und Ihnen kündigen! Seit einem halben Jahr suchen wir einen Mann, da werde ich Sie raus werfen, ehe Sie angefangen haben!«
Heyning wand sich wie unter Schmerzen. »Bitte, Ma'am...«, flehte er. »Ich habe wirklich nichts Schlimmes getan, und ...«
»Warum wollen Sie dann nicht darüber reden?« beharrte Liz. Sie kam sich mit jedem Wort unfairer und gemeiner vor, aber sie war schon so weit gegangen, daß es fast noch unfairer gewesen wäre, jetzt aufzugeben. Früher oder später würde sie ja doch erfahren, was es war.
»Es war«, begann Heyning mit zitternder Stimme, »Ohlsberg ... die ...« Er schluckte, senkte den Blick und begann nervös an seiner Gürtel schnalle herumzufingern. »Es ist wegen Andy«, stieß er schließlich hervor.
»Andy?«
Heyning nickte. »Meine... Tochter«, sagte er leise und ohne sie anzusehen. Liz zuckte zusammen. »Ihre Tochter?« echote sie verblüfft. »Sie haben eine Tochter?« Heynings Augen schimmerten feucht, als er auf sah und all seine Kraft zusammenraffte, um ihrem Blick standzuhalten. »Andy«, wiederholte er schwach. »Sie ist... vierzehn. Vierzehn geworden im letzten Mai.«
Diesmal war es Liz, die eine ganze Weile betreten schwieg. Sie wußte selbst nicht, was sie eigentlich erwartet hatte. Irgendeine dumme alberne Sache, einen kleinen Diebstahl vielleicht, eine Affäre mit irgendeiner Magd - irgend etwas, mit dem Ohlsberg Peter in der Hand hatte - aber nicht das! Das war ein Kaliber, mit dem sie nicht gerechnet hatte. Ihr Zorn auf Ohlsberg stieg.
»Aber das ... das wußte ich ja gar nicht, Peter«, sagte, sie in einem um Verzeihung bittenden Tonfall. »Es tut mir leid. Ich wollte Ihnen nicht weh tun.«
»Niemand weiß es«, erwiderte Heyning. »Nicht einmal die Leute in Schwarzenmoor. Nur... Ohlsberg und die Starbergs. Die Leute, bei denen Andy lebt.«
»Und was ist mit der Mutter?« fragte Liz sanft. »Andys Mutter?« Heyning antwortete nicht sofort. Obwohl er den Blick abgewendet hatte, konnte sie sehen, wie es in seinem Gesicht zuckte. »Sie ist tot«, antwortete er schwach. »Sie starb bei... bei Andys Geburt. Seitdem lebt Andy bei den Starbergs. Ich besuche sie manchmal, aber immer nur nachts und heimlich, wenn es keiner merkt. Herr... Herr Ohlsberg will nicht, daß jemand erfährt, daß ich Andys Vater bin. Er sagt, dann... würden sie sie mir wegnehmen.«
»So?« Liz war nicht überrascht. Das hatte sie fast erwartet.
Peter nickte. »Er... er sagt, sie würden sie in ein Heimbringen lassen.«
Liz machte ein teils wütendes, teils abfälliges Geräusch. Was Peter erzählte, paßte ausgezeichnet in das Bild, das sie sich von Ohlsberg hatte. Ein schmieriger, alter Mann. »Und damit erpreßt er Sie?«
Heyning schwieg.
»Und warum lassen Sie es sich gefallen?«
»Aber was soll ich denn tun! Ohlsberg macht seine Drohung wahr, ganz bestimmt, Ma'am. Sie... sie nehmen mir Andy weg, wenn ich nicht tue, was er verlangt. Ich weiß das. Sie... sie haben es schon einmal gemacht, und sie werden es wieder tun! Und ich will sie nicht verlieren. Ich liebe sie. Sie ist der einzige Mensch, den ich noch habe, seit Ciaire gestorben ist.«
»Ciaire war Ihre Frau?« fragte Liz behutsam.
»Wir... wir waren nicht verheiratet. Wir wollten heiraten, ganz bestimmt, Ma'am, aber... aber ich hatte kein Geld, um eine Familie zu ernähren, und... und...« Er brach ab, begann erst mühsam zu schluchzen und dann hemmungslos zu weinen. Irgend etwas schien sich in Liz zusammen zuziehen. Der Anblick war ihr peinlich, aber das war nur natürlich. Trotzdem - es war nicht das erste Mal, daß sie einen Mann weinen sah, aber es war das erste Mal, daß der Anblick sie so berührte. Hatte sie vorher ein leichtes, noch distanziertes Bedauern verspürt, so fühlte sie nun eine Welle des Mitleids in sich emporsteigen. Sie versuchte sich vorzustellen, was in Peter vorging, welche Qualen er mitmachte. Seit Jahren hatte er leiden müssen. Allein die Vorstellung ließ sie schaudern. Heyning war auf seine Weise hilfloser und verwundbarer als ein Kind - für einen Mann wie Ohlsberg nicht mehr als eine Marionette, an deren Fäden er nach Belieben ziehen konnte.
Sie beugte sich hinüber, legte zaghaft die Hand auf die Schulter und zog ihn dann mit sanfter Gewalt an sich. Diesmal wehrte er sich nicht, sondern schmiegte sich im Gegenteil noch enger an ihre Schulter und weinte hemmungslos. Die Reaktion erschien Liz für einen Moment übertrieben, aber dann dachte sie daran, was für ein ungeheurer Druck sich - vielleicht über Jahre hinweg - in Peter aufgestaut haben mußte. Vierzehn Jahre lang hatte er das Geheimnis für sich behalten, sich allen Schikanen und Erpressungsversuchen Ohlsbergs gebeugt, nur um vielleicht einmal im Monat für wenige flüchtige Stunden seine Tochter sehen zu dürfen.
Liz konnte sich gut vorstellen, was es bedeuten mußte, in einer Stadt wie Schwarzenmoor ein solches Geheimnis über fast anderthalb Jahrzehnte zu bewahren. Für Peter mußte indem Augenblick, in dem er ihr die Wahrheit gesagt hatte, eine Welt zusammengebrochen sein. Und natürlich hatte er Angst - furchtbare Angst, daß sie nun die gleiche, entsetzliche Macht über ihn erlangen könnte wie Ohlsberg. Erst jetzt kam ihr wirklich zu Bewußtsein, wozu sie ihn gezwungen hatte. Ihr schlechtes Gewissen meldete sich.
»Sie brauchen keine Angst mehr zu haben, Peter«, flüsterte sie.
Heyning streifte ihre Hand ab, faltete die Hände im Schoß und krümmte sich. Er schluchzte wie ein Kind. »Ohlsberg hat gesagt, daß er mir Andy wegnimmt, wenn ... wenn ich Ihnen verrate, daß er mich zu Ihnen geschickt hat. Er hat gesagt, er gibt sie in ein Heim, und ... und ich weiß, daß er es tut. Er hat gesagt, er wird sie mir wegnehmen, und er wir des tun. Er hat es schon einmal getan, und er wird es wieder tun.«
»Das wird er nicht«, widersprach Liz ruhig.
»Doch, Ma'am, das wird er. Er tut immer, was er sagt. Er hat gesagt, er schickt sie fort, und er wird es tun.«
»Das wird er nicht«, sagte Liz noch einmal, »weil er es nämlich gar nicht kann.« Sie schob Heyning mit sanfter Gewalt von sich und legte die Hand unter sein Kinn, um ihn zu zwingen, ihr ins Gesicht zu sehen. »Er kann es nicht, Peter, verstehen Sie?«