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Aber konnte man sich an nichts erinnern?

»Besser«, sagte sie trotzdem, wenn auch ohne rechte Überzeugung. »Viel besser als gestern.«

Und das stimmte sogar. Keine Träume. Kein Schrei. Nicht dieses absurde Gefühl des Erwachens.

»Keine Alpträume mehr?« fragte Stefan lächelnd.

Sie schüttelte den Kopf und bückte sich nach ihren Sachen. »Nein.«

Das Hämmern, das die ganze Zeit über vom Hof heraufgeschallt war, brach ab und wurde von einem dumpfen Krach ersetzt, als wäre etwas Schweres, Wuchtiges auf den Boden gefallen. Carry begann wie ein Irrer zu bellen. »Dieser Hund treibt mich noch in den Wahnsinn«, stöhnte Stefan mit komisch übertriebener Verzweiflung. »Er bellt schon den ganzen Morgen, ohne auch nur einmal zwischendurch nach Luft zu schnappen. Wie macht er das?«

»Er wittert Peter. Immerhin ist er ein Fremder.«

»So?« Stefan war ans Fenster getreten und winkte sie mit einer Kopfbewegung heran. »Dann sieh dir einmal das da an«, sagte er.

Liz schlüpfte in Unterrock und Morgenmantel, schloß den Gürtel und trat neben ihn ans Fenster, um hinauszublicken. Stefan rückte ein kleines Stück zur Seite, um ihr Platz zumachen.

Peter stand neben dem Hund. Er schien mit leiser, beruhigender Stimme auf ihn einzureden, ohne daß sie die Worte verstehen konnte, aber Carry bellte trotzdem weiter, als wäre er von Sinnen. Selbst über die große Entfernung konnte sie erkennen, daß seine Zähne gefletscht und das Nackenfell gesträubt waren, was ihm das Aussehen eines großen stelzbeinigen Wolfes verlieh. Seine kräftigen Pfoten hatten tiefe Narben in den Boden gewühlt, obwohl der festgetretene Lehm dort unten so hart wie Beton war. Das seltsame war, daß er nicht Heyning anbellte. Er war weit aus seiner Hütte herausgekommen, so weit es die Kette erlaubte, und seine Schnauze war nach Westen gerichtet, auf den Wald und den dahinter liegenden See hin.

»Ich möchte wissen, was dieser Köter hat«, murmelte Stefan.

»Er wittert etwas.«

Stefan nickte. »Vermutlich. Vielleicht«, er stockte und sah sie abschätzend an, »deinen Fuchs?«

Liz unterdrückte im letzten Moment einen leisen, erschrockenen Aufschrei. Vielleicht waren es Stefans Worte, vielleicht Carrys fast hysterisches Bellen, vielleicht beides - aber von einer Sekunde auf die andere war die Furcht vorn vergangenen Morgen wieder da. Irgend etwas war dort draußen, etwas, das unsichtbar und lautlos war und doch bedrohlich genug, den Hund zur Raserei zu treiben.

»Vielleicht sollten wir ihn losmachen«, überlegte Stefan. »Könnte sein, daß sich dort draußen im Wald ein streunender Köter herumtreibt.«

Liz schüttelte heftig den Kopf. »Nein. Ich - ich will ihn nicht verlieren.« Sie sprach, ohne auch nur zu denken, sprach einfach aus, was ihr in diesem Moment durch den Kopf schoß. Sie würde Carry nicht wiedersehen, wenn sie ihn jetzt losließ, das wußte sie einfach. Was immer dort draußen im Wald (oder im See?) war, würde ihn töten.

Stefan lachte leise. »Liebling! Carry ist ein schottischer Schäferhund, kein Dackel. Muß ich dich daran erinnern, daß ich ein Exemplar der größten Hunderasse der Welt gekauft habe, um mein ängstliches Weibchen zu beschützen? Noch dazu ein wahres Prachtexemplar?« Er lachte wieder, und es klang jetzt nicht nur spöttisch, sondern durch und durch verletzend. »Ich glaube nicht, daß es dort draußen irgendein Tier gibt, das ihm gefährlich werden kann.«

Er drehte sich abrupt vom Fenster weg, drückte ihr einen flüchtigen Kuß auf die Stirn und ging zur Tür. »Beeil dich. Wenn wir gefrühstückt haben, möchte ich dir das letzte Kapitel aus meinem Buch vorlesen. Ich glaube, es wird dir gefallen.« Liz antwortete nicht, und zu ihrer Erleichterung schien Stefan das auch gar nicht erwartet zu haben. Wenn sie jetzt versucht hätte zu sprechen - wenn sie auch nur den Mund aufgemacht hätte, das wußte sie ganz genau -, dann hätte sie angefangen zu schreien.

Sie wartete, bis er die Tür hinter sich geschlossen hatte.

Dann drehte sie sich wieder zum Fenster und sah hinaus. Peter schien es gelungen zu sein, den Hund wenigstens einigermaßen zu beruhigen. Er bellte immer noch, aber sein Bellen klang jetzt weniger panisch, weniger hysterisch, und er begann sogar zaghaft mit dem Schwanz zu wedeln, während Heyning seine Ohren kraulte. Liz beugte sich vor und starrte aus zusammengekniffenen Augen zum Waldrand hinüber. Ihr Erlebnis vom vergangenen Abend fiel ihr wieder ein. Sicher - es war Einbildung gewesen, ihre überreizten Nerven hatten ihr einen bösen Streich gespielt - aber irgend etwas witterte der Hund. Und sie kannte Carry lange genug, um zu wissen, daß er sich nicht von einem streunenden Kaninchen derartig aus der Fassung bringen ließ.

In diesem Punkt hatte Stefan recht: Carry war ein typisches Ergebnis seiner Neigung zu Übertreibungen. Als sie hier herausgezogen waren, hatte Liz den Wunsch geäußert, einen Hund zu haben - zum einen, weil sie einfach der Meinung war, auf einen Hof wie diesen gehöre ein Hund, zum anderen auch aus ganz praktischen Erwägungen heraus. Stefan war oft unterwegs, manchmal für Tage, und Gut Eversmoor war ein einsamer Ort. Sie fühlte sich einfach beschützter mit einem Hund bei sich.

Nicht einmal eine Woche später hatte er Carry angebracht - einen Welpen von drei Monaten, der zu diesem Zeitpunkt schon so groß wie ein ausgewachsener Boxerhund war. Nein - unter der Größe eines Rhinozerosses gab es nicht sehr viel, wovor ein Hund wie Carry Angst hatte.

Sie würde Peter fragen, was los gewesen war, nachher. Der Mann schien sich gut mit Hunden auszukennen. Sie hätte es jedenfalls nicht gewagt, einen vollkommen fremden Hund, noch dazu einen solchen Bären, einfach zu streicheln. Schottische Schäferhunde waren im Grunde gutmütige, liebe Tiere, wie die meisten wirklich großen Hunde - aber sie konnten einen erwachsenen Mann in wenigen Augenblicken zerreißen. Oder ihm aus lauter Liebe einen Finger abbeißen, ohne es auch nur zu merken.

Aber Heyning schien nicht das kleinste bißchen Angst zu haben. Und Carry seinerseits schien mit untrüglichem Instinkt die Zuneigung zu fühlen, die Heyning ihm entgegen brachte. Er beruhigte sich zusehends, hörte schließlich ganz zu bellen auf und rieb seinen mächtigen Schädel an Heynings Seite. Liz beobachtete das Schauspiel noch eine Weile und wandte sich dann vom Fenster ab. In Gedanken schalt sie sich eine Närrin. Vielleicht hatte auch ein Hund dasselbe Recht wie sie - nämlich manchmal einfach hysterisch zu werden. Und wahrscheinlich war das noch geschmeichelt. Liz überlegte vergebens, was, zum Teufel, mit ihr los war. Sie sah Dinge, die es nicht gab, hatte Erinnerungslücken... Ihr sonderbarer Blackout vom vergangenen Tag fiel ihr ein. Es war Mittag gewesen, als sie Schwarzenmoor verließen und dann... ... fehlten ihr einfach ein paar Stunden. Jemand - etwas -, vermutlich sie selbst, irgendein außer Kontrolle geratener Teil ihres Unterbewußtseins, der ihr den totalen Krieg erklärt hatte, hatte ihr einen halben Tag gestohlen. Aber der Gedanke ärgerte sie mehr, als er sie erschreckte.

Sie seufzte tief, zog sich rasch an und ging in die Küche hinunter. Dort erwartete sie die zweite Überraschung des Morgens.

Sämtliche Schränke standen oder hingen an ihrem Platz, das Geschirr war aufgeräumt, und Stefan hatte sogar die gesprungene Scheibe in der Außentür ausgewechselt, über die sie sich seit dem ersten Tag geärgert hatte. Das war ganz entschieden nicht mehr ihre Küche, dachte sie verwirrt.

»Was - was ist denn hier passiert?« fragte sie entgeistert. »Bin ich im falschen Haus?« Stefan grinste und deutete auf den gedeckten Frühstückstisch. »Setz dich.«