Hatte sie wirklich wissen wollen, was dahinter lag?
Der Gedanke erschien ihr unvorstellbar. Es war einfach unmöglich, daß sie diese Tür in den Irrsinn wirklich hatte aufstoßen wollen. Jetzt - ja, jetzt konnte sie es. Sie wußte, daß sie dahinter nichts als Peters Zimmer sehen würde, ein ganz normales, heruntergekommenes Zimmer, mehr nicht.
Aber plötzlich wollte sie nicht einmal mehr das. Mit einem Ruck drehte sie sich herum und verließ das Haus. Und - sie wäre sehr erstaunt gewesen, hätte sie es in diesem Moment überhaupt begriffen, aber das tat sie nicht - sie hatte die Tür kaum hinter sich geschlossen, da hatte sie ihr entsetzliches Erlebnis bereits vergessen.
11.
Es war beinahe Mittag, als sie auf den Hof hinaustrat. Es war sehr heiß. Die Sonne stand wie eine kleine runde Münze aus halbgeschmolzenem Metall am Himmel - Liz blinzelte aus halb zusammengepreßten Augen nach oben und stellte verwirrt fest, daß sie wirklich irgendwie flüssig aussah -, und die Luft war von einer seltsamen Konsistenz, nicht schwül, auch nicht wirklich heiß, sondern ... seltsam. Wie die böse gelbe Sonne dort oben am Himmel schien auch die Luft beinahe flüssig. Jede noch so kleine Bewegung war unangenehm, und der Weg zur Scheune hinüber kam Liz mit einem Male kilometerweit vor. Sie war plötzlich froh, nur das dünne Sommerkleid angezogen zu haben.
Sie hatte sich vorgenommen, zum Schuppen hinüberzugehen und Peter ein wenig bei der Arbeit zuzusehen, aber sie hatte noch nicht den zweiten Schritt gemacht, als sie - von einer unerklärlichen Unruhe ergriffen - erneut stehen blieb. Die Hochstimmung, die während des Frühstück es von ihr Besitz ergriffen hatte, verschwand schlagartig. Ohne daß es ihr selbst bewußt war und - ja, fast gegen ihren Willen -löste sich ihr Blick vom Schuppen und glitt hinüber zum Waldrand. Es war absurd - aber für einen Moment war sie fast sicher, daß er näher gekommen war.
Unsinn, dachte Liz ärgerlich. Wälder kriechen nicht auf Häuser zu. Wenigstens nicht über Nacht.
Aber die Unruhe blieb. Es war wie gestern morgen, als sie erwacht war - ein Kribbeln und Bewegen irgendwo an einer nicht klar definierten Stelle über ihrem Magen, etwas, das es ihr unmöglich machte, ruhig auf der Stelle zu stehen - oder auf den Schuppen zuzugehen, was sie ursprünglich vorgehabt hatte. Sie sah eine Bewegung unter der Tür, löste den Blick mühsam vom Waldrand (verdammt noch mal, er war näher gekommen! Bis gestern hatte die Distanz gute zweihundert Schritte betragen - jetzt war es noch die Hälfte!) und winkte Peter zu, der wohl ihre Schritte oder das Geräusch der Haustür gehört hatte und neugierig herausgekommen war. Flüchtig hob er die Hand und erwiderte den Gruß. In seinen Augen blitzte eine Mischung aus Schrecken und Furcht auf, die sie sich im ersten Moment nicht erklären konnte. Spürte er es auch ?
Peter drehte sich mit einer raschen Bewegung herum und verschwand wieder im Schuppen, und plötzlich fühlte Liz sich allein, entsetzlich allein. Sie war der letzte Mensch. Das einzige Lebewesen auf einer gewaltigen, ausgestorbenen Welt. Zum ersten Mal im Leben spürte sie, was das Wort Einsamkeit wirklich bedeutete. Sie... Blödsinn, dachte sie wütend. Sie war überspannt, und das war alles.
Aber der Wald war eindeutig ein Stück auf das Haus zugekrochen, und... und du bist eine hysterische dumme Ziege,fügte sie in Gedanken hinzu, die sich von ein paar Schritten in den Wahnsinn treiben läßt.
Und trotzdem ...
Irgend etwas war falsch. Der Wald - ob er nun nähergekommen war oder nicht - lag wie eine Mauer aus Schwärze auf der anderen Seite des Weges, keine Barriere aus Zweigen und Unterholz und Moos und Geäst mehr, sondern eine kompakte Mauer, so undurchdringlich, daß sie selbst das Licht verschluckte, das sich auf dem See dahinter brach. Er war dunkel. Ein schwarzer Strich, mehr nicht.
Ihr Blick suchte den Hund. Carry bellte nicht mehr, sondern lag vor seiner Hütte, in der ruhigen, entspannten Haltung, in der er gerne in der Sonne döste. Wenigstens war das der erste Eindruck, den sie hatte.
Dann sah sie, daß es nicht stimmte. Carry lag scheinbar ruhig da, und er döste scheinbar in der Sonne. Sein mächtiger grauer Schädel ruhte auf den zusammengelegten Vorderpfoten, die dünne Rute, fast so lang wie Liz' Unterarm, war unter das Hinterteil geringelt. Hunde ziehen den Schwanz ein, wenn sie sich fürchten, schoß es Liz durch den Kopf. Und in Wirklichkeit waren seine Augen einen Spaltbreit geöffnet, die Lefzen ein ganz kleines bißchen zurückgezogen, als hätte er sich noch nicht ganz entschieden, ob er nun weiterbellen sollte oder nicht, die normalerweise traurig herabhängenden Schlappohren ein winziges bißchen aufgestellt.
Der Hund lag scheinbar ruhig in der Sonne, aber er war angespannt wie eine Stahlfeder.
Und seine Aufmerksamkeit galt eindeutig dem Wald.
Liz zögerte. Sie zog die Möglichkeit, daß sie schlichtweg hysterisch war - vielleicht sogar ein bißchen verrückt, warum nicht? -, ganz ernsthaft in Betracht. Aber das erklärte nicht Carrys Verhalten.
Sie machte einen Schritt auf den Hund zu. Carry sah auf, blinzelte und gab einen sonderbaren Laut von sich: Eine Mischung aus Drohen und Winseln, Knurren und Jaulen zugleich, das sie noch nie zuvor gehört hatte. Dann sank sein Kopf wieder auf die Pfoten zurück. Der Blick seiner kleinen, intelligenten Augen heftete sich wieder auf den Wald. Seine Lefzen zogen sich weiter hoch. Ein tiefes Knurren drang aus seiner Brust, nicht sehr laut, aber ungemein drohend.
Liz schauderte. Trotz der Mittagshitze fror sie plötzlich. Dann drehte sie sich mit einem Ruck herum und begann mit festen Schritten auf den Waldrand zuzugehen. Sie hatte Angst davor, diesen finsteren Bereich der Welt zu betreten, sich ihm auch nur zu nähern - aber sie wußte auch, daß sie vermutlich den Verstand verlieren würde, wenn sie es nicht tat. Sie mußte herausfinden, was hier los war, was hier - mit ihr oder diesem Wald - vorging, und sie würde sich nicht von ein paar Schritten oder ihrer eigenen Hysterie davon abbringen lassen.
Sie versuchte ihre Schritte zu zählen, während sie sich dem Weg näherte, schon um festzustellen, ob der Wald nun wirklich näher gekommen war, aber es gelang ihr nicht;irgendwo zwischen fünfzig und hundert fünfzig verlor sieden Faden und konnte sich nicht einmal mehr erinnern, wo sie ungefähr gewesen war. Es war, als gäbe es irgendwo in der Nähe einen Störsender, der ihre Gedanken durcheinanderwirbelte, sobald sie sich seiner Frequenz annäherten.
Sie verließ den Hof, trat auf den ausgefahrenen Weg hinaus und blieb noch einmal stehen. Der Wald hatte nichts von seiner unwirklichen Schwärze verloren, obwohl sie ihm jetzt nahe war.
Ihre Hände begannen ganz leicht zu zittern. Sie drehte sich herum, sah zum Hof zurück und registrierte mit einer Mischung aus Schrecken und fast wissenschaftlicher Neugier, daß er viel weiter entfernt schien, als er sein dürfte. Das grobe Fachwerk des Haupthauses war zu einem filigranen Spinnennetz geworden, das ein Spielzeuggebäude zierte, die heruntergebrannte Ruine (wieso konnte sie sie überhaupt sehen ?!) an seiner Rückseite nur noch als Schatten erkennbar; der Schuppen mit Peter, dem einzigen lebenden Wesen, das es außer ihr selbst noch auf der Welt gab, war ganz verschwunden, hinter einem blinden Fleck verborgen, der plötzlich auf ihrer Netzhaut war. Kilometer. Es mußten Kilometer bis zum Hof sein, nicht wenige Dutzend Schritte. Es war ein unwirkliches Bild, und daß sie dabei noch immer keine wirkliche Angst verspürte, machte alles noch unheimlicher. Was sollte sie tun? Zurückgehen, auch wenn es ein Fußmarsch von Stunden war? Irgend etwas in ihr schrie mit verzweifelter Kraft danach, es zu tun, aber da war auch eine andere, sehr viel leisere, aber auch sehr überzeugende Stimme, die ihr sagte, daß sie das gar nicht konnte. Dieser Weg führte nur in eine Richtung. Sie war plötzlich völlig sicher, daß sie wieder an diesem Waldrand angekommen wäre, ganz egal, wohin sie sich wandte und wie lange sie lief. Mit klopfendem Herzen drang sie in den Wald ein. Er war nicht annähernd so dicht, wie es ausgesehen hatte - zwischen den Bäumen war genug Platz, bequem hindurchgehen zu können. Was wie eine massive Hand aus ineinandergekrallten Zweigen und Dornengestrüpp ausgesehen hatte, war nur Dunkelheit, eine sonderbar unwirkliche Finsternis, die wie licht schluckender Nebel zwischen den Bäumen trieb. Es war ihr unmöglich, das Wesen dieser Finsternis zu erkennen - jedes mal wenn sie hinsah, störte irgend etwas ihre Konzentration. Der Störsender war noch in Betrieb. Er war jetzt sogar stärker, denn sie näherte sich seiner Quelle.