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Die Schwärze wich vor ihr zurück, im gleichen Tempo, indem sie in den Wald eindrang, und ohne daß sie sich herumdrehen mußte, wußte sie, daß sie sich hinter ihr wiederschloß. Sie bewegte sich durch eine Welt aus Schwärze, in die ihre eigene Anwesenheit einen flüchtigen Tunnel aus Licht und Luft grub. Seine Wände schienen aus schwarz verchromtem Stahl zu bestehen, und sie wußte mit unerschütterlicher Sicherheit, daß sie weder nach rechts noch links von diesem vorgegebenen Weg abweichen konnte, selbst wenn sie es gewollt hätte, einfach weil es gar nichts gab, wohin sie hätte gehen können. Dieser Ausschnitt der Welt bestand nur aus diesem Weg, und er führte nur in eine Richtung. Liz zweifelte keine Sekunde daran, daß er nur für sie, nur für diesen Augenblick erschaffen worden war. Sie konnte nicht umkehren. Aber sie wollte auch gar nicht. Liz war jetzt sicher, daß sie nicht aus freiem Willen hier hergekommen war. Irgend etwas hatte sie gerufen, und dieses Etwas sorgte dafür, daß ihre Neugier stärker war als ihre Furcht. Es schützte sie nicht vollends vor ihrer Angst, aber es dämpfte sie auf ein Maß, mit dem sie aus eigener Kraft fertig werden konnte. Endlich begann sich die Dunkelheit vor ihr zu lichten, wenn auch auf gänzlich andere Art, als sie erwartet hatte. Es wurde nicht wirklich hell, aber vor ihr begann ein blasser, silbergrauer Schimmer die Wand aus Schwärze zu durchbrechen. Nacht dachte sie verwirrt. Vor ihr lag der See. Sie konnte ihn jetzt deutlich zwischen den Stämmen der schwarzen Stahl eichen erkennen, aber das matt silberne Blitzen auf seiner Oberfläche war Sternen licht, nicht das grelle Gold der Mittagssonne. Der Tunnel führte nicht nur durch den Raum, sondern auch die Zeit. Ein paar Dutzend Schritte hinter ihr stand die Sonne senkrecht über dem Hof, aber hier herrschte tiefste Nacht. Sie wußte mit unerschütterlicher Sicherheit, daß es Mitternacht war. Zwischen den letzten Bäumen blieb sie stehen und sah sich um. Die Stille fiel ihr auf: Kleine gleichmäßige Wellen kräuselten die Oberfläche des Sees, die Wipfel der Bäume hoch über ihr wiegten sich leicht im Wind, dicht belaubte Äste bewegten sich wie tausend fingrige grün schwarze Hände, die ihr zu zuwinken schienen - aber nicht der kleinste Laut drang an ihr Ohr. Und jetzt, erst im Nachhinein, begriff sie auch, daß sie in absoluter Stille hier hergekommen war. Der Boden, über den sie gegangen war, war mit Laub und Tannennadeln und trockenem Geäst übersät, aber ihre Schritte waren lautlos gewesen, vollkommen lautlos. Geräusche waren Dinge, die Zeit voraussetzten, Zeit zu entstehen und wieder zu verklingen, aber sie war in einer Enklave der Schöpfung, in der die Zeit ihre Macht verloren hatte. Dies war der Mitternachtssee, er existierte nur jetzt und immer jetzt, in diesem einen, endlosen Moment so wie das, was in ihm war, nur jetzt und hier existierte und doch nie verging. Vielleicht, weil es niemals wirklich gelebt hatte. Es gab nicht nur Lebendiges und Totes, begriff Liz plötzlich, sondern auch noch etwas dazwischen.

All dieses Wissen war mit einem Male in ihr. Es war kein Erinnern, kein Begreifen, sondern etwas, das von außen kam, etwas wie eine lautlose telepathische Botschaft, ein wortloses Wispern, das sie all diese Dinge im Moment wissen ließ, ohne daß sie mit diesem Wissen jetzt schon etwas anfangen konnte.

Gebannt blickte sie auf den See hinaus. Zum ersten Mal fiel ihr auf, wie groß er war - sehr, sehr viel größer, als sie ihn in Erinnerung hatte, und entsetzlich tief. Sein Wasser war schwarz, weil etwas in seiner Tiefe das Licht fraß, und die leichten Wellen, die seine Oberfläche kräuselten, kamen nicht allein vom Wind. Etwas bewegte sich darin.

Der fremde Wille schützte sie noch immer vor der Angst, so daß sie neugierig weiterging und erst stehen blieb, als ihre Schuhe im weichen Morast direkt am Ufer zu versinken begannen. Gebannt blickte sie auf die gewaltige, bleigrauschimmernde Fläche hinaus, ließ sich in die Hocke sinken und versuchte die vage Bewegung genauer zu erkennen. Es ging nicht. Was immer dort war, war ungeheuer groß und massig, aber es entzog sich ihrem Blick, so wie die Schwärze im Wald vorhin. Ein Krake. Ein Bündel sich windender Schlangen. Peitschendes Haar im Sturm. Eine Riesenamöbe. Eine Masse geronnener Finsternis, die...

Nein, es ging nicht. Welches Wort sie auch suchte, espaßte nicht. Das Etwas im See war alles davon und doch nichts. Es war fremd, so fremd, daß ihr menschlicher Sprachschatz nicht ausreichte, es zu beschreiben, nicht einmal es zu vergleichen, weil es nichts gab, womit es sich vergleichen ließ. Der einzige halbwegs klare Eindruck, den sie hatte, war der einer schrecklichen Sechser-Symmetrie. Alles war sechsfach vorhanden - nicht sieben, was doch eigentlich die magische Zahl sein sollte - sondern sechsfach. Dreimal sechsfach. Aber dreimal sechs, dachte sie verstört, war in diesem Zusammenhang nicht achtzehn, sondern Sechs-Sechs-Sechs, die Zahl des Tieres.

Und ganz plötzlich begriff sie, warum sie hier war. Dieses DING dort unten im See hatte sie gerufen. Es hatte sie hierherbefohlen, damit sie all dies sah, vielleicht einen winzigen Zipfel des Geheimnisses erblickte, ohne es indes auch nur ansatzweise verstehen zu können. Und mit der gleichen, von außen kommenden phantastischen Klarheit begriff sie, daß sie nicht in Gefahr war, noch nicht, weil diese Nacht nicht die vergangene war, sondern eine, die kommen würde, irgendwann. Es war eine Drohung, ein düsteres Versprechen auf die Zukunft. Der Mitternachtssee und sein entsetzlicher Bewohner warteten auf sie.

DAS STIMMT, wisperte eine Stimme, und ohne daß sie auch nur darüber nachdenken mußte, wußte sie, daß es SEINE Stimme war, die Stimme dieses entsetzlichen Dinges im See. Sie war nicht in ihrem Kopf - wenn dies Telepathie war, dann war sie ganz anders, als sie es sich jemals vorgestellt hatte. Sie kam von überall her zugleich, als brächte sie jedes einzelne Molekül der Luft in ihrer Umgebung zum Schwingen. Sie war ungeheuer laut, ungeheuer mächtig, obwohl sie nur flüsterte, und sie war auf gräßliche Weise angenehm. Ein tiefer, voll tönender Bariton, der etwas in ihr zum Klingen brachte.

»Wer bist du?« flüsterte sie. Sie wußte, daß es nicht nötig gewesen wäre, laut zu sprechen - das DING las ihre Gedanken, so wie sie seine Gedanken spürte und nur glaubte, sie zu hören. Aber es war leichter.

ICH BIN ICH antwortete die lautlose Götter stimme. ICH BIN DER TEUFEL. DER KLABAUTERMANN. MEPHISTO. BAAL. MAN HAT MIR VIELE NAMEN GEGEBEN. SUCH DIR EINEN AUS. ODER ERSINNE EINEN NEUEN. ES SPIELT KEINE ROLLE. »Aber das ist... verrückt«, murmelte Liz. »Du behauptest, das Böse zu sein.« Sie versuchte zu lachen. »So etwas gibt es nicht.«

WARUM BIST DU DANN HIER?

»Du existierst nicht«, behauptete Liz. »Du bist höchsten seine Ausgeburt meiner eigenen Phantasie.«