»Sie kennen moderne Traktoren?« fragte Liz.
»Nur vom Sehen«, antwortete Peter. »Aber ich mag sie nicht. Sie sind zu groß. Zu laut.« Er lächelte verlegen, drehte ein paar mal den Kopf nach rechts und links, als wisse er plötzlich nicht mehr, wohin mit seinem Blick, und wandte sich dann wieder seiner Arbeit zu, so plötzlich, als wäre ihm erst jetzt wirklich klar geworden, was er tat und daß es überdies etwas Verbotenes war.
Liz beobachtete ihn eine Weile. Er hantierte mit einem Geschick an der Maschine, das sie ihm gar nicht zugetraut hätte. Plötzlich erschien es ihr gar nicht mehr so unglaublich, daß er den Traktor wieder zum Leben erwecken würde. Seine Finger bewegten sich mit einer schon fast unheimlichen Geschicklichkeit, und während sie es taten, veränderte sich auch sein Gesichtsausdruck: Es war beinahe unheimlich, vielleicht vor allem, weil es so schnell ging.
Eine sichtbare Spannung breitete sich auf seinen Zügen aus; von einer Sekunde zur anderen verwandelte er sich in einen völlig anderen Menschen. Aus dem trotz allem noch kindlichen, irgendwie unfertigen Gesicht eines Beinahe-Idioten wurde das eines ganz normalen, gut aussehenden jungen Mannes, der sich völlig auf seine Aufgabe konzentrierte. So sehr, daß er alles andere rings um sich herum zu vergessen schien; selbst sie, obwohl er noch vor Sekunden mit ihr gesprochen hatte. Er war... unheimlich, dachte Liz. Es war das zweite Mal, daß sie glaubte, ihn ganz anders zu sehen, als er war, und obgleich er sich diesmal nicht in ein Ungeheuer mit einem Gorgonenhaupt und furchtbaren gelben Augen verwandelte, war der Effekt kaum weniger erschreckend als beim ersten Mal. Sie schauderte. Ein Gefühl eisiger prickelnder Kälte breitete sich auf ihren nackten Unterarmen aus. Als sie an sich her absah, stellte sie fest, daß sie eine Gänse haut hatte.
Liz drehte sich mit einer so abrupten Bewegung herum, daß selbst Peter einen Moment in seiner Arbeit inne hielt und stirnrunzelnd aufsah, machte einen Schritt zur Tür hin und blieb wieder stehen. Nein - sie konnte nicht hinaus. Noch nicht. Es war noch dort draußen, was immer es auch war, lange nicht mehr so intensiv und drohend wie vorhin, als sie hierher eingeflohen war, aber noch immer präsent. Sie blieb stehen, sah Peter weiter schweigend bei seiner Arbeit zu und kam sich immer alberner vor.
»Was war eigentlich mit dem Hund los?« fragte sie nach einer Weile. »Mit Carry? Er hat gebellt wie ein Irrer.«
Peters Kopf tauchte aus den Eingeweiden der Maschine auf. Über seinem linken Auge glänzte ein kleiner Ölfleck, der vorher nicht dagewesen war. »Weiß nicht, Ma'am«, antwortete er - jetzt wieder mit der monotonen, leicht schleppenden Stimme. Er war wieder er, der Dorftrottel, der Beinahe-Idiot, der Spion, den Ohlsberg zu ihnen geschickt hatte. Sie hatte den Zauber zerstört, dachte sie, und empfand ein absurdes, heftiges Gefühl von Schuld dabei.
»Er muß irgend etwas gewittert haben. Vielleicht ein Kaninchen.«
Liz schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie überzeugt. »Das war kein Kaninchen. Auch kein Fuchs. Ich kenne Carry. Es muß schon etwas Großes sein, wenn er so durchdreht.«
Peter überlegte einen Augenblick. »Früher gab es Wölfe hier in der Gegend«, erzählte er. »Aber die letzten sind vor fünfzig Jahren geschossen worden.«
»Wölfe?« wiederholte Liz ungläubig. »Hier?«
Peter nickte heftig. »Ja, bestimmt. Ich hab' natürlich keinen mehr gesehen, war ja damals noch gar nicht auf der Welt, aber mein Vater hat erzählt, daß er noch einen gesehen hat, mit eigenen Augen.«
Aber hier? dachte sie. Das war kurz vor dem Krieg. Wölfe? Wölfe?
»Es gibt eine Menge komischer Sachen hier«, sagte Peter.
»Dinge, die es anderswo vielleicht nicht mehr gibt. Ohlsberg sagt das auch. Und es stimmt. Hab' selbst ein paar Sachen gesehen, die komisch waren.«
»Sachen?« fragte Liz rasch. »Was für Sachen?«
»Komische Dinge eben«, erwiderte Peter ausweichend. Sie spürte, daß er schon wieder an dem Punkt angelangt war, an dem er nicht weiter sprechen wollte und bereits bedauerte, überhaupt geantwortet zu haben. »Besser, man spricht nicht darüber.« Dinge wie einen Schrei, der kein Schrei gewesen war, dachte Liz schaudernd. Laut sagte sie: »Mein Mann meint, es könnte ein Fuchs sein. Aber das... glaub' ich nicht.«
»Sicher. Füchse gibt es viele hier. Manche haben die Tollwut. Besser, man geht ihnen aus dem Weg. Und Wildschweine. Aber die trauen sich nicht so weit aus dem Wald heraus. Jedenfalls nicht am Tag.«
»Bären gibt es ja wohl nicht zufällig auch noch hier, oder?« fragte Liz scherzhaft. Ihr war noch immer kalt. Der Scherz kam ihr selbst lahm und dumm vor. Peter reagierte nicht darauf. Er sah Liz einen Atemzug lang an, ehe er sich erneut über die Maschine beugte und an irgend etwas herumzuschrauben begann. Diesmal verwandelte er sich nicht. Er tat nur so, als arbeite er, aus dem einzigen Grund, nicht mehr mit ihr reden zu müssen. Sie spürte, wie sehr er dar aufwartete, daß sie endlich ging.
Peter antwortete nicht, und plötzlich begriff sie, das er auch nicht weiter reden würde. Und wahrscheinlich wußte er ja auch gar nichts.
»Ich ... ich mache gleich das Essen«, sagte sie schließlich. »Sie kommen dann rüber, wenn ich rufe, ja?«
Er nickte, ohne von seiner Arbeit auf zusehen. Eine Schraube entglitt seinem Finger, prallte mit einem glasklaren Plink vom Motorblock ab und rollte davon, um von den Schatten gefressen zu werden.
»Gut. Ich - gehe dann.« Sie drehte sich um und verließ zögernd die Scheune. Diesmal hatte sie keine Angst. Aber sie spürte ein leichtes Bedauern - sie hätte sich gerne noch ein wenig mit Peter unterhalten. Der Mann, war bestimmt nicht halb so verrückt, wie Ohlsberg behauptet hatte. Er war nur scheu, introvertiert, eine Verhaltensweise, die von den einfachen Leuten hier oben vielleicht als verrückt ausgelegt wurde. Allenfalls ein bißchen verhaltensgestört. In der Stadt, aus der Stefan und sie gekommen waren, hätte man ihn zu einem guten Psychotherapeuten geschickt, und er wäre nach ein paar Sitzungen geheilt. Vielleicht - wäre er auch erst gar nicht so geworden, wie er war; Liz zweifelte jetzt immer weniger daran, daß Ohlsberg und die anderen - wer immer diese anderen auch sein mochten - ihn sechsunddreißig Jahre lang geduldig zu dem gemacht hatten, was er jetzt war. Und vielleicht, fügte sie in Gedanken spöttisch hinzu, war das Land leben dem in der Stadt nicht in allen Punkten überlegen.
13.
Als sie zum Wohnhaus hin überging, fing Carry wieder an zu bellen.
Liz blieb stehen. Der Laut jagte ihr einen eisigen Schauer über den Rücken: Es war ein helles, kläffendes Bellen, nicht das tiefe Rra-Wuff, das sie von ihm gewöhnt war, und als sie näher kam, sah sie, daß er zitterte. Seine Nackenhaare waren aufgestellt, und von seinen Fängen tropfte rosafarbener Schaum.
Der Hund... hat Angst! dachte Liz schaudernd. Panische Angst. Aber wovor nur? Sie hob die Hand, streckte sie nach ihm aus, und zog den Arm erschrocken wieder zurück, als Carry nach ihr schnappte und ein drohendes Knurren hören ließ, ohne dabei mit Jaulen und Kläffen aufzuhören. Blasiger Geifer troff von seinen Lefzen, die so weit hochgezogen waren, daß es ihr im ersten Moment fast unmöglich erschien. Wieder erinnerte sie sein Anblick an einen Wolf, und wie um den Eindruck noch zu verstärken, echoten Peters Worte dumpf hinter ihrer Stirn: Ich selbst hab' keinen mehr gesehen, aber mein Vater... vor fünfzig Jahren ... Und Carry sah in diesem Augenblick wirklich aus wie ein Wolf:Sein Gebiß war furchteinflößend gefletscht, die Augen groß und rund und schwarz vor Zorn (Zorn?), jeder einzelne Muskel in seinem mächtigen Leib bis zum Zerreißen gespannt. Sein Fell war gesträubt, als wäre es elektrisch geladen.