»Und ich will nicht, daß du dich meinetwegen überanstrengst«, unterbrach er sie. »Mach dir doch nichts vor. Du hast zu viel von dir verlangt, und jetzt bekommst du die Quittung.«
»Aber Stefan, ich habe es gehört, verstehst du? Gehört!Ich bilde mir nichts ein. Das... das Geräusch war da!« Sie sprang auf, hob die Arme und sank mit einem halb unterdrückten Schluchzen wieder zurück. »Es war da«, wimmerte sie.
Stefan schwieg einen Moment, und in sein Gesicht trat ein undefinierbarer Ausdruck, etwas, vor dem sie erschrak, plötzlich und ohne es sich selbst erklären zu können. »Ich glaube dir ja«, sagte er beruhigend. »Ich glaube dir, daß du etwas gehört hast. Ich glaube dir, daß du es wirklich gehört hast, daß du es dir nicht nur einbildest. Aber ich will gar nicht wissen, was es war.«
Er nahm sie an den Schultern und schob sie auf Armeslänge von sich. »Sieh mal, Schatz. Nehmen wir an, du hast dort draußen wirklich etwas gehört, während ich hier auf meiner Schreibmaschine randaliert habe und Peter mit seinem Spielzeug beschäftigt war. Aber - ganz egal, was es war: Noch vor drei, vier Minuten hättest du gelacht. Wenigstens hättest du nicht so ohne weiteres einen Nervenzusammenbruch erlitten. Du bist einfach am Ende deiner Kräfte.
Und es ist meine Schuld«, fügte er etwas leiser und nach einer kaum merklichen Pause hinzu.
»Wieso? Ich ...«
»Doch. Ich weiß, was du sagen willst, aber es ist meine Schuld. Ich bin ein Idiot, Liz. Ich habe mich die letzten sechs Monate hier oben in meinem Arbeitszimmer vergraben, seitenweise Papier voll gekritzelt und gar nicht gemerkt, wie du dich zugrunde richtest.«
»Jetzt redest du Unsinn«, sagte sie lahm. Aber irgendetwas sagte ihr, daß er nicht einmal so völlig unrecht hatte;wenn auch aus ganz anderen Gründen, als er selbst an nahm.
Er schüttelte ernst den Kopf. »Oh, nein. Ich war noch nie so vernünftig wie in diesem Augenblick. Ich glaube, ich habe mir wirklich eingebildet, du könntest aus eigener Kraft aus dieser Ruine hier wieder ein funktionierendes Heim machen.«
»Unsinn«, sagte sie. »Du hast mehr getan als ich. Du ...«
»Vierzehn Tage geackert wie ein Wahnsinniger, ja«, unterbrach er sie. »Ich habe mir die schweren Sachen herausgepickt, ein paar Kraftakte vollbracht und meine Muskeln spielen lassen und bin mir auch noch toll dabei vorgekommen. Es tut mir leid, Schatz. Ich... ich habe wohl nicht begriffen, wie aufreibend dein tägliches Einerlei war. Und dann noch die Sache gestern.« Er schüttelte den Kopf. »Du bist nun mal kein Herkules. Es hätte mir klar sein müssen, daß du irgendwann einmal am Ende deiner Kräfte angelangt sein würdest. Sei froh, daß es so glimpflich abgegangen ist.«
»Glimpflich?« Sie keuchte.
»Es hätte schlimmer kommen können«, sagte er. »Du ...« Er brach ab, als vom Hof das Geräusch eines Wagens hereindrang, und stand auf. »Das wird der Arzt sein«, vermutete er.
»Schick ihn weg«, verlangte Liz.
»Wie bitte?«
»Schick ihn weg, bitte. Ich möchte nicht, daß die ganze Gegend erfährt, daß ich mich wie eine hysterische Ziege verhalten habe.«
Stefan lächelte. »Erstens hast du dich nicht wie eine hysterische Ziege verhalten. Du benimmst dich allerhöchstens jetzt wie ein störrisches Kind, aber das konntest du ja schon immer gut. Und zweitens gibt es so etwas wie eine ärztliche Schweigepflicht, falls ich dich daran erinnern darf.«
»Wieso ... ist er jetzt schon da?« murmelte Liz verstört. »Habe ich...«
Sie stockte. »Ist es ... schon so lange her?« Gott, hatte sie wieder Zeit verloren? Ein neuer Blackout?
»Lange?« Stefan blickte sie verwirrt an, dann schüttelte erden Kopf und lächelte. »Nein. Ich habe nur mit seiner Frau telefoniert, vorhin. Wahrscheinlich hat sie ihn bei irgendeinem seiner anderen Patienten erwischt, hier in der Nähe. Oder er hat Funk im Wagen.«
»Ich will nicht, daß er mich so sieht!«
»Wie?« fragte Stefan. »Krank?«
»Hysterisch«, erwiderte Liz.
»Du bist krank«, beharrte Stefan. »Und niemand wird auch nur ein Sterbenswörtchen von dem erfahren, was hier vorgefallen ist, wenn du es nicht selbst herum erzählst. Der Arzt darf überhaupt nichts davon erzählen, das weißt du doch.«
Sie wollte ihm sagen, was sie von der ärztlichen Schweigepflicht hier hielt, aber das Eintreten des Doktors hinderte sie daran.
Doktor Swensen machte sich nicht die Mühe, anzuklopfen oder Zeit mit irgendwelchen anderen Förmlichkeiten zu verschwenden. Er war ein alter, kurzbeiniger Mann mit einem roten Weihnachtsmanngesicht und dicken Wurstfingern, die kaum so aussahen, als könnten sie ein Schlachtermesser richtig führen, geschweige denn ein ärztliches Instrument. Sein Anzug schien die letzten beiden Weltkriege mitgemacht zu haben, und unter seinem Gesicht wackelte ein Doppelkinn, das ihm einen plumpen, schwer fälligen Anstrich gab. Er kam herein, ohne anzuklopfen, warf seinen Hut auf einen freien Stuhl und hinterließ eine Schmutzspur auf dem weißen Teppich, während er auf die Couch zusteuerte. Liz hatte ihn bisher einmal flüchtig gesehen - sie erinnerte sich nicht mehr, wo - und dabei seinen Namen auf geschnappt, aber die Zeit, die sie bis jetzt hier lebten, war zu kurz gewesen, als daß sie seine Hilfe hätte in Anspruch nehmen können. Sie wollte es auch nicht; schon gar nicht jetzt.
»Das ist unsere Patientin, wenn ich mich nicht irre«, sagte er jovial. Es klang unecht, und Swensen gab sich nicht einmal sonderlich Mühe, um den Anschein zu erwecken, daß seine Worte mehr waren als eine bloße Floskel, die er vermutlich bei jedem Hausbesuch von sich gab.
Liz starrte ihn feindselig an, aber das schien ihn nicht sonderlich zu stören. Er lächelte, stellte seine abgewetzte Arzttasche auf den Tisch und legte seine dicken Finger auf ihre.
Seine Hände fühlten sich feucht und verschwitzt an. Liz zog ihre Hand zurück und rückte ein Stück von ihm weg. »Wo fehlt's denn?« fragte Swensen noch immer in diesem jovialen, aufreizenden Ton, der ihre Abneigung noch verstärkte. »Nirgends«, sagte Liz wütend. »Ich brauche keine Hilfe.«
Swensen lächelte milde. »So sehen Sie mir aber ganz und gar nicht aus«, sagte er. »Im Gegenteil. Was ist passiert? Ein Unfall?«
»Ich habe ein Gespenst gesehen«, antwortete Liz wütend. »Das war alles. Wenn Sie das unter dem Wort Unfall verstehen, dann war es einer, ja.«
Swensen sah auf und tauschte einen fragenden Blick mit Stefan, ehe er sich wieder Liz zuwandte, ein Stück näher rutschte und erneut ihre Hand ergriff. Diesmal ließ sie es geschehen. »Ihr Mann hat am Telefon etwas von einem Nervenzusammenbruch erzählt«, sagte er. »Nach dem, was ich jetzt sehe, scheint mir das ein wenig übertrieben. Aber immerhin... ganz in Ordnung sind Sie nicht, mein Kind. Ein Gespenst, sagen Sie. Welche Art von Gespenst?« Es dauerte einen Moment, bis Liz begriff, daß er sich keineswegs über sie lustig machte, sondern diese Frage in vollem Ernst stellte. Sie glaubte nicht einmal, daß er sie für hysterisch oder übergeschnappt hielt - für ihn war einfach alles, was er hörte, Symptom einer Krankheit, und er fragte nach, um sich Klarheit über ihre Art und Schwere zu verschaffen.
»Es war ... keine... keine Halluzination«, antwortete sie zögernd, »wenn Sie das meinen. Ich ... ich dachte, ich hätte etwas gehört.«
»Ein Geräusch?«
»Gibt es noch etwas anderes, was man hören kann?«
Swensen blieb ernst. »Sie haben etwas gehört«, wiederholte er. »Und das hat Ihnen angst gemacht.«
Sie nickte widerwillig. »So ungefähr... Aber ich fühle mich schon wieder ganz gesund. Sie verschwenden Ihre Zeit, Doktor.«
Swensen zuckte gleichmütig die Achseln. »Kaum. Höchstens das Geld Ihres Mannes.« Er grinste, als hätte er einen guten Witz gemacht, und begann mit schnellen, routinierten Bewegungen, ihren Ärmel aufzurollen.
»Sie brauchen mich nicht zu untersuchen«, sagte Liz. Sie versuchte, den Arm zurückzuziehen, aber Swensen hielt sie mit erstaunlicher Kraft fest.