»Ich weiß. Aber ich tue es trotzdem. Haben Sie doch Mitleid mit einem armen Landarzt. Und etwas muß ich doch auf die Rechnung schreiben, oder?«
Gegen ihren Willen mußte Liz lachen. Sie zögerte noch einen Moment, legte sich dann zurück und ließ es zu, daßer sie gründlich untersuchte. Sie empfand noch immer ein starkes Unbehagen dabei; allein die Berührung seiner plumpen, verschwitzten Hände war ihr unangenehm. Aber sie begriff auch, daß dieser Widerwille gar nicht Swensen persönlich galt - jede Berührung wäre ihr in diesem Moment zuwider gewesen, selbst die Stefans. Ganz im Gegenteil schwand ihre Abneigung gegen Swensen jetzt rasch, zumal sie zu spüren glaubte, daß er sein Handwerk wirklich verstand. Sein Aussehen und seine Bewegungen erinnerten sie noch immer mehr an einen Metzger gesellen als an einen Arzt, aber er untersuchte sie schnell und routiniert, stellte eine Menge präziser, knapper Fragen und schien keine Bewegung zu machen, die überflüssig war.
Es war eine völlig neue Erfahrung für Liz - Swensen war ein Arzt von gänzlich anderer Art, als sie es gewohnt war. Aber sie war sich plötzlich nicht mehr so sicher, ob seine Art wirklich schlechter war. Sie hätte sich ihm nicht anvertrauen wollen, wenn sie irgendeine exotische oder kompliziert zuerkennende Krankheit gehabt hätte, aber für die Rolle, die er hier zu spielen hatte, schien er perfekt. Und er strahlte etwas aus, was vielleicht ebenso wichtig war wie das überlegene Fachwissen seiner Kollegen in der Stadt: Sicherheit. So unangenehm ihr seine Berührung noch immer war, erfüllte sie sie doch gleichzeitig mit Ruhe. Irgendwie fühlte sie sich... beschützt, einfach dadurch, daß er da war.
Als er fertig war, packte er seine Instrumente umständlich wieder zusammen und lehnte sich mit vor der Brust verschränkten Armen zurück. Sein Blick ruhte lange auf ihrem Gesicht, und Liz vermochte nicht zu sagen, ob das, was sie darin las, nun Spott oder Sorge oder Erleichterung war oder von allem ein bißchen.
»Nun, Doktor?« fragte sie schließlich. »Wie lange habe ich noch zu leben?« Swensen sah sie nachdenklich an. »Schwer zu sagen«, antwortete er ernst. »Ich bin kein Spezialist für solche Fälle.« Er überlegte einen Moment angestrengt. »Vielleicht... vielleicht fünfzig Jahre - ungefähr«, sagte er schließlich. »Aber das ist nur eine Schätzung, ohne Gewähr. Machen Sie mich nicht dafür verantwortlich, wenn es länger dauert.« Er lächelte flüchtig, wurde aber sofort wieder ernst und sah sie abermals auf diese sonderbare Art an.
»Tz, tz«, machte er. »Organisch sind Sie gesund wie ein Pferd, wenn Sie mir den Vergleich gestatten. Vielleicht ein wenig überanstrengt.«
»Siehst du«, triumphierte Stefan, »was habe ich gesagt!«
»Aber nicht sehr schlimm«, fuhr der Arzt ungerührt fort. »Auf keinen Fall so, daß dies ein Grund für einen Nervenzusammenbruch wäre. Nicht bei einer so jungen, kräftigen Frau. Aber irgendeinen Grund muß es ja wohl gegeben haben. Vielleicht erzählen Sie mir, was vorgefallen ist.«
Liz zögerte. Allein der Gedanke, darüber reden zu müssen - mit einem wildfremden Menschen wie Swensen noch dazu -, bereitete ihr Unbehagen. Aber schließlich überwand sie sich und erzählte ihm alles, stockend und mit sichtlicher Überwindung zuerst, dann immer schneller und hastiger, als könnte sie nun, da der Bann einmal gebrochen war, den Redefluß nicht mehr aus eigener Kraft stoppen, ehe nicht alles, aber auch wirklich alles heraus war. Sie ließ nichts aus, begann bei dem Vorfall vom vergangenen Morgen, erzählte von ihrem seltsamen Erlebnis im Wald und endete mit dem heutigen Zwischenfall. Sie erzählte nur zwei Dinge nicht - nichts von der blutenden Tür (daran erinnerte sie sich noch immer nicht), und nichts von dem Mitternachtssee und seinem entsetzlichen Bewohner, obwohl ihr klar war, daß ihr Zusammenbruch Swensen ohne dieses Wissen noch rätselhafter erscheinen mußte, denn so war er völlig unmotiviert. Aber sie war mittlerweile felsenfest davon überzeugt, daß zumindest dieser Teil ihrer Erlebnisse pure Einbildung war. Sie war niemals dort im Wald gewesen. Es war so, wie die Stimme des DINGS gesagt hatte: Das Ungeheuer war in ihr.
»Das ist... interessant«, murmelte Swensen, als sie geendet hatte. Er lächelte. »Aber auch ziemlich verrückt, nicht?«
»Vielleicht spinne ich auch einfach nur«, antwortete Liz.
»Oh, das meine ich nicht«, erwiderte Swensen. Er lächelte, setzte sich ein wenig bequemer hin und tippte sich gegen die Schläfe. »Ab und zu rastet es bei jedem von uns mal aus, da oben«, erklärte er ernsthaft. »Aber das allein ist gar nicht schlimm. Schlimm wird es erst, wenn man die Sache einfach übergeht. So etwas ist meistens ein Warnzeichen. Geistiger Schmerz, wenn Sie so wollen. Er kann harmlose Ursachen haben.«
»Oder auch nicht.«
»Oder auch nicht«, bestätigte Swensen ungerührt. Er seufzte. »Ich fürchte, ich bin kaum der richtige Partner für dieses Gespräch, mein liebes Kind. Ich bin ein einfacher Knochenflicker, kein Seelenklempner. Andererseits...«
»Sie meinen, ich sollte zu einem Irrenarzt gehen?« fragte sie spitz.
Swensen seufzte abermals. Sein Blick wurde vorwurfsvoll. »Es ist immer dasselbe mit euch jungen Leuten«, murmelte er. »Warum lassen Sie einen armen alten Pferdedoktor wie mich nicht einfach einmal aussprechen? Was Ihnen fehlt, sind allenfalls ein paar Unterrichtsstunden in gutem Benehmen, kein Irrenarzt.«
»Entschuldigung«, murmelte Liz. »Ich wollte Sie nicht beleidigen.«
»Das haben Sie auch nicht«, antwortete Swensen verzeihend. »Was ich sagen wollte, war, daß ich prinzipiell dagegen bin, einen kleinen Zwischenfall wie diesen künstlich hochzuspielen. Es wäre ein Fehler, ihn zu ignorieren, aber es wäre genauso falsch, mehr hineinzugeheimnissen, als darin ist. Wenn er sich wiederholt, müssen wir vielleicht anfangen, uns Gedanken zu machen. Aber im Moment bin ich eher der Meinung, daß Ihr Mann recht hat und Sie schlicht und einfach überarbeitet sind. Ihre Nerven scheinen mir ein wenig angegriffen, aber ich denke, das legt sich wieder. Ihr Mann sagte, er will Sie für ein paar Tage in die Stadt bringen?« Sie nickte störrisch. »Gegen meinen Willen, ja.«
»Nun«, Swensen lächelte ironisch, »normalerweise verfahren wir ja so, daß wir Leute, die dringend der Erholung bedürfen, aus der Stadt auf das Land schicken. Aber in Ihrem Fall scheint es umgekehrt zu gehen. Versuchen Sie es ruhig. Vielleicht tut es Ihnen gut, einmal alte Freunde wiederzusehen und ein bißchen Kohlenmonoxid zu schnuppern.« Er grinste. »Und ich dachte immer, das Stadtleben macht krank.«
»Jedwedes Leben macht krank«, erwiderte Swensen ruhig. »Ich persönlich kenne niemanden, der nicht irgendein Zipperlein hätte - außer ein paar ehemaligen Patienten von mir, die jetzt draußen auf dem Friedhof liegen. Sie haben Ihre Kräfte überschätzt, junge Dame. Es ist nicht immer einfach, so von heute auf morgen seine Koffer zu packen und ein vollkommen neues Leben anzufangen. Da können sich nervliche Belastungen ergeben, die man nie erwartet hätte. In der ersten Zeit, wenn noch alles neu und fremd ist, merkt man vielleicht nichts davon, aber der Druck ist da. Er staut sich auf, wird stärker und stärker, ohne daß man etwas davon spürt, und eines Tages...« Er seufzte, stand auf und klappte seine Tasche zusammen. »Ich lasse Ihnen ein leichtes Schlafmittel hier«, sagte er, während er aufstand und nach seinem Hut griff. »Ich glaube nicht, daß Sie es brauchen - aber für alle Fälle. Und - machen Sie sich keine Sorgen. In ein paar Tagen sind Sie wieder auf dem Damm.«
»Wie beruhigend.«
Swensen überhörte den sarkastischen Unterton geflissentlich, lächelte ihr noch einmal zu und wandte sich an Stefan. »Ich wäre Ihnen dankbar, wenn ich den Krankenschein...«
»Kein Krankenschein«, unterbrach ihn Stefan. »Wir sind privat versichert. Schicken Sie mir die Rechnung zu.«
»Privat?« Swensen lächelte geradezu unverschämt. »Wie erfreulich. Dann hat sich der Weg ja vielleicht doch noch gelohnt.«