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Liz hatte den kleinen Umstand, den Wagen auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu parken und die wenigen Meter zu Fuß gehen zu müssen, noch niemals als sonderlich lästig empfunden. Aber sie waren auch noch niemals währen deines ausgewachsenen Wolkenbruchs hier gewesen, und als wäre das allein noch nicht genug, genau in der Rushhour, in der Tausende von Leuten in Tausenden von Autos stadtauswärts drängten, und das - zumindest kam es Liz so vor - alle auf der gleichen Straße.

Das Unwetter hatte es frühzeitig dunkel werden lassen und die Straße in einen mattschwarzen Spiegel verwandelt, über den Autos in einer nicht endenden Kette jagten, grellgelbe Lichtsplitter vor sich herschiebend und gischtende Wellen von hoch spritzendem schmutzigem Wasser hinter sich ziehend. Der Anblick erinnerte sie an eine Ebene aus schwarzem Chrom, über die Stahlkäfer mit leuchtenden Augen krabbelten.

Beinahe sehnsüchtig blickte sie durch die beschlagene Scheibe zu dem Hochhaus hinüber, in dem ihre Freunde wohnten; eine schwarze, mit zahllosen rechteckigen Augen gesprenkelte Säule vor dem Abendhimmel, kaum hundert Schritte entfernt und doch in diesem Moment entsetzlich weit weg. Sooft sie hier gewesen waren, um Gabi und Rainer zu besuchen, hatten sie niemals einen Parkplatz direkt vordem Haus bekommen, nicht einmal auf der richtigen Seite der vierspurigen Chaussee. Der Turm - es war wirklich ein Turm: Ein vierundzwanzigstöckiges Ungeheuer aus Chrom und Glas und weiß gefärbtem Sichtbeton - ragte aus dem Herzen eines kleinen, aber sorgsam gepflegten Miniaturparkes, fünfhundert Quadratmeter importierter englischer Rasen und ein Dutzend Bäume in sorgsam geplantem Chaos, unter denen sich eine Tiefgarage mit mehr als fünfhundert Einstellplätzen verbarg. Für Besucher und ihre Wagen war im Plan des Architekten nicht viel Platz gewesen.

»Worauf wartest du?« fragte Stefan, nachdem er den Motor abgeschaltet und eine Zeit lang vergeblich gewartet hatte, daß sie ausstieg - oder wenigstens den Verschluß des Sicherheitsgurtes öffnete.

»Es regnet«, antwortete Liz, ohne sich zu ihm herum zudrehen. Sie sah seine Bewegung als verzerrten Reflex in der beschlagenen Scheibe vor sich, als er nickte. »Und es wird vermutlich noch den ganzen Abend weiterregnen. Möglicherweise bis morgen früh. Hast du vor, solange hier im Wagen sitzen zu bleiben?« Seine Stimme war erfüllt von einer Aggressivität, die Liz nun doch aufsehen und ihn einen Moment sehr nachdenklich anblicken ließ. Sie hatte es nicht einmal gemerkt, aber er hatte sich eine Zigarette angezündet und rauchte, und jetzt, als der Motor und somit auch die Lüftung abgestellt waren, wurde die Luft im Wagen sehr schnell schlechter. Die rote Glut der Zigarette verlieh seinem Gesicht etwas Dämonisches. Obwohl er im Moment nicht weiter sprach, fühlte sie die Spannung, die in ihm war, eine Aggressivität, einen... ja: Zorn, den sie sich einfach nicht erklären konnte. Was, zum Teufel, tun wir hier eigentlich! dachte sie. Wäre ihr im Moment nicht beinahe zum Heulen zumute gewesen, dann hätte sie vielleicht gelacht, denn ihre Situation war schlichtweg absurd. Stefan hatte auf diesem Kurzurlaub - den sie sich im Moment weder finanziell noch zeitlich leisten konnten - bestanden, damit sie sich erholte - und was taten sie? Sie gifteten sich an, wo sie nur konnten! Es war lächerlich, schlichtweg lächerlich!

»Zum Teufel, was ist?« fragte Stefan, als sie nicht reagierte. »Hast du vor, im Wagen zu übernachten?«

»Natürlich nicht«, antwortete sie, leise und mit einiger Verspätung. Dann: »Und wenn... sie gar nicht da sind?« Diese Befürchtung war noch nicht einmal so unberechtigt - wie ihr Besuch in Stefans Verlag erfolgte auch ihr Überfall auf Rainer und Gabi ohne Vorankündigung. Immerhin war Freitagabend, und die beiden waren nicht gerade dafür bekannt, sauertöpfisch zu sein.

»Das stellen wir am besten fest, indem wir hingehen und klingeln, nicht?« fragte Stefan ruhig. Er seufzte, zog den Zündschlüssel ab und sah ganz automatisch in den Rückspiegel, ehe er die Tür auf stieß und ausstieg; so schnell, daß Liz nicht einmal Gelegenheit gehabt hätte, irgend etwas zu antworten, wenn sie es gewollt hätte. Liz zögerte noch einen allerletzten Moment, ihm zu folgen. Für einen ganz kurzen Augenblick hatte sie ein intensives Empfinden von Gefahr, das sie zwar nicht begründen konnte, das aber zu stark war, um irgendwelche Zweifel zuzulassen, das unerschütterliche Wissen, daß es ein Fehler wäre, jetzt aus zusteigen und zu diesem Haus hinüberzugehen, ein schlimmer, möglicherweise ein tödlicher Fehler. Ja, jetzt, in diesem Moment, in dem sie noch im Wagen saß und die schwarze Silhouette des Hochhauses betrachtete, die sich hinter der nassen Windschutzscheibe des Jaguars zu biegen und zu verzerren schien wie ein großes lebendes Wesen, in diesem Augenblick kam ihr zum ersten Mal überhaupt der Gedanke, daß sie in Lebensgefahr sein könnte. Und für einen noch kürzeren Moment hatte sie Angst, panische Angst.

Dann verscheuchte sie den Gedanken, stieß die Tür mit einem übertrieben heftigen Ruck auf und stieg aus. Kälte und nadelspitze eisige Regentropfen klatschten wie eine unsichtbare Hand in ihr Gesicht. Sie duckte sich, warf die Wagentür ins Schloß und schlug den Jackenkragen hoch.

Das Überqueren der Straße allein wurde zu einem fast lebensgefährlichen Unterfangen; ein gewagter Zickzack, in dem sie sich wechselweise vor her anschießenden Autos oder hochspritzendem eisigen Wasser in Sicherheit zu bringen versuchten. Den Fahrzeugen wichen sie mit mehr Glück als Verstand aus - dem Wasser nicht. Und um das Maß voll zumachen, begann es heftiger zu regnen, kaum daß sie die gegenüberliegende Straßenseite erreicht hatten: Ein einzelner, greller Blitz spaltete den Himmel, und es begann zuschütten wie aus Eimern. Wären sie es nicht schon gewesen, wären sie spätestens jetzt bis auf die Haut durchnäßt worden, obwohl sie beide rannten, so schnell sie konnten.

Zu ihrer Erleichterung war die Haustür offen; die beiden großen Glasflügel waren angelehnt, aber der Wind drückte so dagegen, daß das Schloß nicht eingerastet war. Stefan schnaubte zufrieden, schob die Tür mit einem Ruck vollends auf und machte eine einladende Handbewegung, die allerdings zu spät kam - Liz hatte sich schon an ihm vorbei in das vielleicht nicht wärmere, mit Sicherheit aber trockenere Foyer des Hauses gedrängt. Während Stefan mit ausgestrecktem Zeigefinger über die Namensschildchen auf den Briefkästen fuhr - natürlich hatten sie beide wieder vergessen, in welcher Etage Gabi und Rainer wohnten -, schüttelte sie sich wie eine nasse Katze. Es war keine fünf Minuten her, seit sie den Wagen verlassen hatten, trotzdem war die Kälte bis in ihre Knochen gekrochen. Sie versuchte die Hände zu Fäusten zu ballen, aber es ging nicht. Ihre Finger waren so steifgefroren, daß es weh tat, sie auch nur zu bewegen, und das war sehr sonderbar. Es war kalt geworden, und am nächsten Tag sollten die Zeitungen den dramatischsten Temperatursturz seit dreißig Jahren vermelden - aber der Kalender zeigte Anfang Mai, und es war einfach unmöglich, daß es so kalt sein sollte. Als sie Eversmoor verlassen hatten, hatten all ihre Blumenbeete in voller Blüte gestanden - und jetzt waren ihre Hände rot vor Kälte! Stefan hatte das Namensschildchen gefunden, wischte sich mit dem Handrücken die Mischung aus Spritzwasser und Schmutz aus den Augen, die sie von der Straße mit hereingebracht hatten, und deutete mit einer fragenden Kopfbewegung auf die Milchglastür, die tiefer ins Innere des gemauerten Labyrinths aus Beton und Glas führte.