Выбрать главу

»Nehmen wir den Aufzug - oder ziehst du ein wenig Jogging vor?« fragte er in einem ebenso tapferen wie vergeblichen Versuch, witzig zu sein. Liz lächelte pflichtschuldig, schüttelte den Kopf und trat ohne ein weiteres Wort an den Lift. Von den vielleicht zehn Malen, die sie hier gewesen waren, hatten sie neunmal die Treppe genommen, obwohl Gabis Wohnung im dreizehnten Stock dieses Hausungeheuers lag. Liz haßte Aufzüge und diesen hier ganz besonders - es war einer jener supermodernen Glaszylinder, die scheinbar frei an der Außenseite des Hauses in die Höhe glitten, sodaß man zwar eine prachtvolle Aussicht über das Nobelviertel Hamburgs genoß, einen Knoten im Magen und Übelkeit für die nächsten zwei Stunden aber noch gratis dazu geliefert bekam, wenn man - wie sie - das Pech hatte, nicht schwindelfrei zu sein. Aber heute fühlte sie sich einfach zu schwach, die Treppe zu nehmen, obwohl weder Stefan noch sie normalerweise keine Gelegenheit ausließen, Aufzüge, Rolltreppen und andere Segnungen der modernen Zeit mit Verachtung zu strafen. Heute wußte sie, daß sie die dreizehn mal fünfzehn Stufen einfach nicht schaffen würde. Sie fühlte sich so schwach, als wäre sie den Weg von Schwarzenmoor bis hierher gelaufen. Und es war nicht nur die Kälte, die sich in ihre Glieder gekrallt hatte.

Stefan sprach kein Wort mit ihr, während der Aufzug langsam in die Höhe glitt. Er sah sie nicht an, sondern blickte durch die Glas wand des Aufzuges nach außen, aber sie spürte, daß er in Wahrheit weder die langsam nach unten wegsackende Stadt noch den brodelnden Wolkenhimmel sah. Sein Blick war irgendwie leer. Die Blitze, die wie dünne gebrochene Lichtnadeln aus den Wolken stachen, ließen sein Gesicht erneut in diesem unheimlichen, fast dämonischen Licht erscheinen wie vorhin im Wagen. Liz sah weg. Was geschah mit ihr? Sie war hier hergekommen, um zu vergessen, wenigstens für ein paar Stunden - aber es schien im Gegenteil schlimmer zu werden. Sie hatte den Wahnsinn mitgenommen.

Obwohl sie mit aller Macht versuchte, sich zu beherrschen, mußten ihre Gedanken ziemlich deutlich auf ihrem Gesicht geschrieben stehen, denn Stefan sah plötzlich sehr besorgt aus; sie spürte, daß er sie etwas fragen wollte, und für einen Moment wünschte sie sich nichts sehnlicher, als daß er es tat. Es wäre ganz egal gewesen, was er sagte;irgendeine Belanglosigkeit, irgend etwas. Aber er schwieg, und als der Lift mit einem kaum spürbaren Ruck zum Stehen kam, erstarrte sein Gesicht wieder zu Stein. Die Chance war verspielt, und sie würde auch so bald nicht wiederkommen.Warum hatte sie nichts gesagt? Warum war es so schwer, den ersten Schritt zu tun?

Über ihnen flammte automatisch eine Doppel reihe großer, kalt leuchtender Neon röhren auf, als die Lifttüren auf glitten. Ein intensiver Geruch nach frischer Farbe schlug ihnen entgegen. Auch das war etwas, was für sie untrennbar mit der Erinnerung an dieses Haus verbunden war: Der Geruch nach Latex-Farbe, der immer in diesem Treppenhaus hing, als würde es jede Woche frisch gestrichen.

Nichts hier gefiel ihr: Die Wände waren weiß, von einem strahlenden, beinahe schon unangenehm hellen Weiß, die Türen abwechselnd rot und blau, kräftige Pop-Farben, die vom schattenlosen Licht der Leuchtstoffröhren noch unterstrichen wurden. Der Anblick ließ sie klackende Echos und Kälte erwarten, aber das Gegenteil war der Falclass="underline" Der Hausflur war auch im Winter wohlig warm, denn er wurde geheizt, und ein dicker Fußbodenbelag verschluckte das Geräusch ihrer Schritte vollkommen. Wie immer, wenn sie in diesem entsetzlichen Flur war, begann sie sich fast augenblicklich unwohl zu fühlen.

Dann begriff sie, daß es gar nicht an diesem Haus lag oder dem Aufzug, wenigstens diesmal nicht. Sie wollte nicht hier sein, das war alles. Es war ein Fehler gewesen, Gut Eversmoor überhaupt zu verlassen, und es war ein noch größerer Fehler, jetzt hier zu sein. Es hatte nichts mit Gabi und Rainer zu tun - im Gegenteil, die beiden waren vielleicht die besten Freunde, die sie je gehabt hatten, und Gabi mit Sicherheit der einzige Mensch, zu dem sie über ihre schrecklichen Erlebnisse im Wald und am See sprechen konnte. Nein, sie wollte einfach nicht hier sein, nicht in diesem Haus, nicht in Hamburg, nirgendwo, außer in ihrem eigenen Haus. Sie wollte fort. Zurück. Hätte Stefan auch nur eine einzige Sekunde gezögert, die Hand auf den Klingelknopf zu legen, oder sie auch nur angesehen, hätte sie es ihm gesagt. Aber er tat weder das eine noch das andere, sondern drückte ohne zu zögern die Klingel, und eine halbe Sekunde später hörten sie den tiefen, melodischen Gong durch das Holz der Tür hindurch. Zu spät. Auch die zweite Chance war vertan. Und irgendwie hatte sie das Gefühl, daß es sehr, sehr wichtig gewesen wäre, sie zu nutzen. Sie sollte nicht hier sein. Es gab nur einen Ort auf der Welt, an dem sie im Augenblick sein sollte, weil dort etwas auf sie wartete, weil...

Was waren das für Gedanken? dachte sie erschrocken. Sie war doch gerade hier, weil sie vor dem DING im See hatte fliehen wollen, und jetzt... sehnte sie sich regelrecht zu ihm zurück!

»Es scheint... niemand da zu sein«, sagte sie, als auch nach einigen Sekunden keine Reaktion auf ihr Klingeln erfolgte. »Vielleicht hätten wir doch vorher anrufen sollen.« Stefan hob die Schultern. Er sah sie immer noch nicht an. »Sie sind zu Hause«, behauptete er. »Sie machen nur nicht auf.« Er deutete auf den pfenniggroßen Spion, der in Kopfhöhe in die dunkelblaue Oberfläche der Tür eingelassen war. Auf den ersten Blick schien das winzige runde Glasauge schwarz, aber aus einem ganz bestimmten Winkel heraus konnte man sehen, daß dahinter Licht brannte. »Vielleicht stören wir sie gerade bei einer Orgie.« Er lächelte, aber etwas in seiner Stimme war falsch; Liz war nicht sicher, daß seine Bemerkung wirklich so scherzhaft gemeint gewesen war, wie sie sich anhören sollte.

»Unsinn«, murmelte sie verärgert. Mit einer heftigen Bewegung trat sie an ihm vorbei, streckte die Hand nachdem Klingelknopf aus und drückte ihn so lange, bis das Geräusch von Schritten durch die Tür drang. Das Licht hinter dem Spion erlosch für einen Moment, kam zurück, und dann war das Klirren einer Kette zu hören. Eine Sekunde später wurde die Tür geöffnet, und eine reichlich verblüffte Gabi blickte zu ihnen heraus.

Unter allen anderen denkbaren Umständen hätte dieser Moment Liz wohl für alle bisher erlittenen Unbillen entschädigt - letztlich hatten sie ja gerade auf einen Anruf oder irgendeine andere Warnung verzichtet, um die beiden zu überraschen. Aber was sie in Gabis Augen las, das war keine Überraschung. Ja, sicher - sie war überrascht, zumindest im allerersten Moment. Aber was der ersten Verblüffung folgte, das war eindeutig Betroffenheit, keine Freude. Sie sah ertappt aus; wie jemand, der sich bei etwas Verbotenem, zumindest aber Anstößigem überrascht sieht. Ganz instinktiv dachte sie wieder an Stefans scherzhafte Bemerkung, und eine Sekunde später ertappte sie sich dabei, Gabis Aussehen einer raschen, aber gründlichen Inspektion zu unterziehen. Beinahe hastig sah sie zu Boden, schuld und ein bißchen beschämt über ihre eigenen Gedanken. Gabi mußte ihren taxierenden Blick bemerkt haben. Sie hoffte nur, daß sie nicht erriet, was er bedeutete.

»Ihr?« sagte Gabi schließlich. »Das... das ist...«

»Eine Überraschung?« schlug Stefan vor, als sie ins Stottern kam und schließlich nicht weiter sprach.

Gabi nickte. Verwirrt fuhr sie sich mit der Hand über Kinn und Lippen, sah erst Liz, dann Stefan und dann wieder Liz an und suchte sichtlich nach irgendwelchen passenden Worten, ohne schließlich mehr als ein hilfloses Lächeln zustande zu bringen. Liz war jetzt davon überzeugt, daß sie sie bei irgend etwas gestört hatten, was ihr sehr unangenehm war. Vielleicht platzten sie geradewegs in einen handfesten Ehekrach zwischen Rainer und ihr. So etwas kam öfter vor, um nicht zusagen fast regelmäßig. »Hoffentlich ist es wenigstens eine angenehme Überraschung«, fuhr Stefan fort, als Gabi immer noch keine Anstalten machte, irgend etwas zu sagen - geschweige denn, sie zum Hereinkommen aufzufordern. »Wenn nicht, kommen wir gerne ein andermal wieder«, fügte er hinzu.