Diese Worte brachen den Bann. Gabi blinzelte, trat einen halben Schritt zurück und sah Liz an, als erkenne sie sie erst jetzt wirklich.
»Großer Gott, was tue ich hier eigentlich?« sagte sie, während sie abermals einen halben Schritt zurücktrat und übertrieben geschauspielert die Hand vor den Mund schlug. »Ihr seid durchnäßt bis auf die Haut und friert euch sicher zu Tode, und ich stehe da und starre euch an wie...« Sie brach ab, schüttelte den Kopf und machte eine entschiedene, fast befehlende Geste. »Kommt rein, schnell, bevor ihr euch hier draußen den Tod holt. Großer Gott, wie seht ihr aus? Seid ihr her geschwommen, oder funktioniert das Verdeck deines Wagens nicht mehr? Kommt rein, um Gottes willen, kommt rein!«
Liz unterdrückte ein Seufzen. Ja, das war wieder die Gabi, die sie kannte, einer der extrovertiertesten Menschen, die sie kannte, und der einzige, der - wie Stefan es einmal ausgedrückt hatte - schneller reden konnte als Giesela Schlüter und Dieter Thomas Heck in ihren besten Tagen, ohne daß irgendein anderer auch nur die Spur einer Chance hatte, ihn zu unterbrechen. Sie hatte sich eindeutig wieder gefangen.
»Wer ist da, Liebling?« drang Rainers Stimme aus dem Wohnraum, als sie sich an Gabi vorbei in die winzige Diele drängten. Aber es war nicht nur seine Stimme. Begleitet wurde sie von leiser Musik und dem Klirren von Gläsern, und dazwischen andere Geräusche; Laute, die Liz nicht genau identifizieren konnte, die ihren Verdacht aber bestätigten. Die beiden waren nicht allein.
Wieder fiel ihr Stefans lächerliche Bemerkung ein, und wieder fragte sie sich, ob vielleicht doch mehr daran war, als sie wahrhaben wollte. Natürlich waren die beiden - wie Stefan und sie - aus dem Alter heraus, in dem man sich mit Gruppensex und Orgien amüsierte; aber es gab noch andere Dinge, die man in Gesellschaft tun konnte und bei denen man sich nicht gerne überraschen ließ.
»Wer ist gekommen?« fragte Rainer erneut. Leder knarrte, als er sich von der Couch erhob und näher kam. Liz erkannte seinen Schatten durch das geriffelte Milchglas der Wohnzimmertür.
»Das errätst du nie!« rief Gabi zurück. »Wir haben Besuch, Liebling.« Sie legte Liz und Stefan die Hände auf die Schultern und schob sie vor sich her ins Wohnzimmer. »Unsere beiden Ökos sind zurück!«
Liz hatte sich nicht getäuscht - die beiden waren nicht allein. Auf der schmalen weißen Ledercouch unter dem Fenster saß ein noch relativ junges Paar - beide allerhöchstens Anfang Zwanzig, schätzte Liz -, von dem zumindest das Mädchen ebenso erschrocken und überrascht aussah wie zuvor Gabi, während der junge Mann ihnen mit so bewußt zur Schau getragener Gleichgültigkeit entgegen blickte, daß sie schon wieder unglaubwürdig wirkte. Liz taxierte die beiden mit einem raschen, unverhohlen neugierigen Blick. Das Mädchen war dunkelhaarig und schlank, vielleicht sogar noch etwas jünger, als sie im ersten Moment geglaubt hatte, und genau jener Typ, mit dem sich Gabi gerne umgab: Eines jener modernen, allerdings etwas schüchternen jungen Dinger, mit denen sie fast nach Belieben umspringen konnte und die ihr noch dankbar dafür waren, während der junge Man nein eher nichtssagendes Gesicht hatte, wie viele Burschen in seinem Alter.
Auch Rainer wirkte unangenehm überrascht. Er war ihnen ein Stück entgegengekommen, blieb aber mitten im Schritt stehen, als Gabi die Tür mit dem Fuß auf stieß und sie vor sich her ins Wohnzimmer schob. Das Lächeln, mit dem er die Pfeife aus dem Mund nahm und erst Liz, dann Stefan begrüßte, war nicht ganz echt. Wie Gabi freute er sich ehrlich über ihren Besuch, und wie ihr war er ihm deutlich unangenehm in diesem Moment.
Ihr Blick streifte durch den Raum, auf der Suche nach irgend etwas, das das sonderbare Verhalten der beiden erklären konnte. Aber da war nichts. Die Wohnung war wie immer: Eine supermoderne, super teuer eingerichtete Großraumwohnung, die eigentlich nur aus einem zehn mal zwölf Meter messenden Wohnzimmer, einem winzigen Schlafraum und einer noch kleineren Küche bestand. Die vier schienen Karten gespielt zu haben, als sie kamen, aber daran war nichts Besonderes; früher, als sie sich öfter gesehen hatten, hatten sie oft ganze Nächte mit den Spielkarten verbracht - Skat, Siebzehn und Vier, Bridge, harmlose Spiele, bei denen der Einsatz die Zehn-Mark-Grenze niemals überschritten hatte.
Die Vorstellung, daß Gabi und Rainer mit diesen beiden Kindern um Geld gespielt haben sollten, war schlichtweg lächerlich. Und doch - irgend etwas an den Karten, die das Mädchen jetzt beinahe hastig wegräumte, war sonderbar. Aber sie wußte nicht, was. Auf dem Tisch - der übrigens bis auf einen Schreibblock und einen protzigen Füllfederhalter vollkommen leer war - stand ein herumgedrehtes Weinglas. Diese ganze, sonderbare Anordnung schien eine bestimmte Bedeutung zu haben, aber Liz vermochte nicht einmal zu erraten, welche.
Plötzlich begriff sie, daß sie die beiden auf der Couch noch immer unverblümt anstarrte und wie unhöflich ihr Benehmen war. Sie sah hastig weg.
»Ich hoffe, wir stören nicht«, sagte sie unsicher. »Es war wohl keine so gute Idee, einfach so...«
»Blödsinn«, unterbrach, sie Gabi. »Ausgemachter Quatsch, Liebling. Du störst niemals. Und selbst wenn du stören würdest, würde es mich nicht stören.« Sie lachte über ihren eigenen Scherz - wie üblich ein ganz kleines bißchen zu laut -, wiederholte ihre einladende Handbewegung und bugsierte Liz quer durch das Wohnzimmer aufs Bad zu, ohne ihr auch nur Gelegenheit zu geben, sich vorzustellen oder mehr als ein flüchtiges Kopfnicken mit Rainer zu wechseln. »Jetzt lege ich dich erst einmal trocken«, sagte sie in halb scherzhaftem, halb ernstem Ton. »Und danach könnt ihr euch bekannt machen.«
Liz widersprach nicht. Im Grunde war sie ganz froh, daß Gabi ihrem Ruf gerecht wurde und sie einfach überfuhr, in diesem Moment. Ganz kurz registrierte sie, daß ihre Schuhe dunkle Spuren auf dem teuren Teppich hinterließen, während sie das Wohnzimmer durchquerte.
»Zieh die nassen Sachen aus«, sagte Gabi, als sie im Bad waren und die Tür hinter sich geschlossen hatten. »Willst du heiß duschen?«
Liz schüttelte dankbar den Kopf, und Gabi ging ohne ein weiteres Wort in die Hocke, um ein gewaltiges Frottee-Handtuch aus einer Schublade des Einbauschrankes zu nehmen.
»Warum habt ihr nicht angerufen, daß ihr uns besuchen kommt?« fragte sie. »Ich hätte wenigstens ein paar Kleinigkeiten vorbereiten können.«
Liz zögerte, zu antworten. Die Situation kam ihr immer absurder vor - die ganze Zeit über hatte sie das Gefühl gehabt, daß gerade Gabi es war, die irgend etwas zu verbergen hatte - und plötzlich war sie es, die sich in die Defensive gedrängt sah; und noch dazu völlig grundlos. Sie wußte nicht, warum - aber Gabis Frage war ihr peinlich. Sie kam sich vor wie ein Eindringling. Sie gewann ein wenig Zeit damit, sich aus der Lederjacke zu schälen, die vom Wasser schwer und klebrig geworden war, und umständlich nachdem Handtuch zu greifen. Aber dann mußte sie antworten. »Wir wollten euch überraschen«, sagte sie. »Außerdem wußten wir bis gestern abend selbst noch nicht, daß wir kommen. Aber es war wahrscheinlich keine sehr gute Idee.« Sie machte eine hastige, besänftigende Handbewegung, als sie Gabis Gesichtsausdruck sah. »Das hat nichts mit dir zu tun«, sagte sie, »oder Rainer. Es war ein miserabler Tag, das ist alles.«
Gabis Gesichtsausdruck sagte sehr deutlich, was sie von dieser Antwort hielt. Aber sie war diplomatisch genug, wenigstens im Augenblick nicht weiter zu bohren, sondern drehte sich mit einem Achselzucken herum, verschwand durch die zweite Tür ins angrenzende Schlafzimmer und kam wenige Augenblicke später mit trockenen Kleidern über dem Arm zurück. Liz zog sich rasch aus, trocknete sich gründlich ab und schlüpfte in die frischen Kleider. Erst als sie die Knöpfe der teuren Seidenbluse schloß, fiel ihr auf, daß Gabi sie die ganze Zeit beobachtet hatte. Zum ersten Mal, solange sie sich kannten, war es ihr peinlich, daß ihre Freundin sie nackt gesehen hatte. Sie verstand es, aber sie begriff es nicht. Es war eindeutig wegen Stefans dummer Bemerkung von vorhin, die ihr jetzt beinahe obszön vor kam. Sie war jetzt sicher, daß sie keineswegs scherzhaft gemeint gewesen, sondern das Gegenteil war: Ein genau berechnetes Gift, das er verspritzt hatte und das seine Wirkung tat, ob sie es wollte oder nicht.