»Das Kaufen nicht«, antwortete Liz, froh, das Thema wechseln zu können. »Diese Wohnung hier hat wahrscheinlich doppelt so viel gekostet wie Eversmoor.« Sie machte eine weit ausholende Handbewegung, und Gabi nickte. »Das Dreifache«, pflichtete sie ihr bei. »Beinahe jedenfalls.«
Walter runzelte demonstrativ die Stirn. »Stimmt das? Ich meine ... wir haben uns umgesehen, in der letzten Zeit. Die Höfe da oben sind zwar billig, aber das...«
»War so gut wie geschenkt«, unterbrach ihn Stefan. Aus irgendeinem Grund klang er ebenso gereizt wie zuvor Liz, als sie mit Stefanie gesprochen hatte. Möglicherweise war sie nicht die einzige, die die beiden nicht besonders sympathisch fand. »Aber Sie würden es verstehen, wenn Sie das Haus gesehen hätten, als wir ankamen.«
»So schlimm?«
»Schlimmer«, sagte Liz. »Es war eine Ruine. Zum Großteil ist es das heute noch. Wir haben eine Menge Geld reinstecken müssen, von der Arbeit ganz zu schweigen. Aber Sie haben recht - trotz allem war es ein Spottpreis. Wahrscheinlich hat die Gemeinde es so billig abgegeben, weil es niemand haben wollte.« Sie lachte leise. »Ich bin heute fast sicher, daß wir den Preis noch mehr hätten drücken können, wenn wir gewollt hätten. Der Hof hat dreißig Jahre lang leer gestanden.«
»Beinahe«, mischte sich Gabi ein. »Die Leute vor euch ...«
»Haben es nicht einmal halb so lange ausgehalten wie wir«, unterbrach sie Liz. »Vielleicht waren sie auch einfach nur schlauer als wir.«
»Oder sie wollten nicht so gerne auf einem Friedhof leben«, sagte Gabi.
»Einem ... Friedhof?« Liz blinzelte verwirrt. »Was soll das denn heißen?«
»Die ganze Gegend da oben ist ein Friedhof«, antwortete Gabi ernsthaft. »Sag bloß, dieser Makler hat euch nichts davon gesagt?«
»Wovon?« hakte Liz nach. Ein sehr ungutes Gefühl begann sich in ihr breit zumachen. Gabi sprach in diesem triumphierenden, leicht übertriebenen Ton, den sie immer einschlug, wenn sie irgend etwas loswerden konnte, worauf sie sich schon lange gefreut hatte - und das meistens etwas Unangenehmes war. »Wovon hat er nichts gesagt?« fragte sie noch einmal, sah aber jetzt Stefan an. Ihr Mann zuckte die Achseln und sah weg.
»Von der Sturmflut, die dort oben alles verwüstet hat«, antwortete Gabi. »Im Ernst - wußtest du nichts davon?« Sie runzelte übertrieben die Stirn, als Liz den Kopf schüttelte. Einen Moment lang blickte sie auch Stefan fragend an, dann stand sie auf, ging zum Bücherregal und kam mit einem in blaues Kunstleder gebundenen Band im Atlanten-Formatzurück. Als sie ihn auf den Tisch legte, sah Liz, daß ein Stück Papier als Lesezeichen zwischen die Seiten gelegt worden war. Gabi schlug das Buch auf. Liz erkannte die Küstenlinie auf den ersten Blick, auch wenn sie nicht ganz originalgetreu abgebildet war. Dann begriff sie, daß es eine sehr alte Karte war. Der Küsten verlauf war damals anders gewesen als heute. Sie beugte sich vor, suchte einen Moment vergeblich nach Schwarzenmoor und blickte wieder zu Gabi auf. »Und?«
»Das Ganze ist sechshundert Jahre her«, erklärte Gabi. »Damals stand das ganze Gelände unter Wasser - eine Springflut, weißt du.«
»Sechshundert Jahre?« vergewisserte sich Liz.
»Ungefähr - glaube ich«, gestand Gabi. »Aber es war nicht irgendeine Springflut. Damals ist eine ganze Stadt da oben versunken, mit Mann und Maus: Rum hold. Du hast noch nie von der großen Mandränke gehört?«
Liz erinnerte sich schwach, die beiden Begriffe genau zweimal gehört zu haben - einmal in einer Fernsehsendung, das andere Mal in einem Lied von Achim Reichel; aber sie hatte ihn niemals mit Schwarzenmoor assoziiert. »Das... das war...«
»Praktisch unter euren Füßen«, beantwortete Gabi die Frage, ehe sie sie vollends aussprechen konnte. »Genau weiß heute niemand mehr, wo dieses Rum hold gelegen hat, aber es kann nicht sehr weit von eurem Schwarzenmoor entfernt gewesen sein. Auf jeden Fall war das ganze Gelände damals überflutet - siehst du?« Sie deutete auf die Küste, und Liz erkannte erst jetzt die zweite, gestrichelte Linie, die ein gutes Stück landeinwärts parallel zur Küste lief. Auch wenn weder Schwarzenmoor noch ihr Haus auf der Karte abgebildet waren - seltsam: Auch der See war nicht darauf -, erkannte sie doch klar, daß das ganze Gelände damals unter Wasser gestanden haben mußte. So furchtbar falsch war der Vergleich mit einem Friedhof nicht. Eine völlig unbegründete, aber sehr heftige Furcht machte sich in ihr breit. Da war etwas, das über Gabis Worte hinausging. Einen Moment lang blickte sie noch die Karte an, dann sah sie zu Stefan auf.
»Hast du davon gewußt?« fragte sie, ein wenig lauter und sehr viel schärfer, als sie eigentlich beabsichtigt hatte.
»Wovon?« fragte Stefan.
Liz zog eine ärgerliche Grimasse und ließ die flache Hand auf das Buch herunter klatschen. »Davon! Stell dich nicht dümmer, als du bist«, fauchte sie. »Diese Katastrophe. Diese... diese...« Sie sah zu Gabi auf. »Wie hast du es genannt?«
»Die große Mandränke«, antwortete Rainer an ihrer Stelle.
Liz nickte. »Genau das. Hast du davon gewußt?«
»Nein«, antwortete Stefan verwirrt. »Oder ja, wie du willst. Ich habe davon gehört, wie jedermann davon gehört hat.«
»Jedermann offensichtlich nicht. Ich wußte jedenfalls nichts davon«, unterbrach ihn Liz wütend. »Wenigstens nicht, daß Eversmoor praktisch auf den Ruinen dieses Rum hold errichtet wurde.«
»Aber das ist doch Blödsinn!« fuhr Stefan auf. Er beugte sich vor, klappte das Buch mit einer ärgerlichen Bewegung zu und griff nach dem Weinglas, ohne aber zu trinken. Der Blick, der Gabi dabei streifte, war nicht unbedingt freundlich. »Was, zum Teufel, soll das? Erstens weiß niemand ganz genau, wo dieses Rum hold überhaupt gelegen hat und zweitens ist es die Kleinigkeit von sechshundert Jahren her! Welchen Unterschied hätte es wohl gemacht, wenn du es gewußt hättest?«
»Keinen«, antwortete Liz. »Ich hätte es nur gerne gewußt, das ist alles.«
Stefan trank einen Schluck und stellte das Glas mit einem unnötig harten Ruck wieder auf den Tisch. »Jetzt weißt du es«, sagte er grob.
Einen Moment lang breitete sich Stille aus; jene ganz besonders unangenehme Art von Stille, in der man die Spannung beinahe knistern hören konnte. Gabi und Rainer warfen sich bezeichnende Blicke zu, und Stefanie und ihr Mann sahen plötzlich aus wie zwei Mäuse, die sich am liebsten unter den Teppich verkrochen hätten.
»Ich denke, ich mache uns allen erst einmal einen guten Kaffee«, sagte Gabi plötzlich. Sie stand auf, klemmte sich das Buch unter den linken Arm und schenkte Liz ein so freundliches Lächeln, als wäre gar nichts geschehen. »Kommst du mit, Liebes?« Natürlich ging es nicht um den Kaffee, und jedermann wußte es. Trotzdem stand Liz nach kurzem Zögern auf und folgte ihr in die Küche. Sie war ein wenig bestürzt, wie heftig ihre Reaktion auf Gabis sicher interessante, aber ganz und gar harmlose Neuigkeit gewesen war. Aber ihre eigenen Reaktionen erstaunten sie sowieso immer mehr. Sie schien nicht mehr sie selbst zu sein, seit sie Eversmoor verlassen hatten. Nicht zum ersten Mal an diesem Tag kam sie zu der Überzeugung, daß es ein Fehler gewesen war, hierher zu kommen.
»Was ist mit euch los?« begann Gabi ganz unverblümt, kaum daß sie die Küchentür hinter sich geschlossen hatte. »Habt ihr Streit?«
»Nicht direkt«, antwortete Liz ausweichend. »Aber es war wahrscheinlich keine gute Idee, her zukommen.«