»Das hast du schon einmal gesagt«, sagte Gabi. »Wie meinst du das? Was ist passiert?«
»Nichts«, erwiderte Liz. »Das ist es ja gerade.« Sie seufzte, lehnte sich mit vor der Brust verschränkten Armen gegen die Tür und schloß für einen Moment die Augen. »Es ist meine Schuld«, sagte sie schließlich. »Stefan kann nichts dafür und ihr auch nicht. Und euer Besuch schon gar nicht.« Sie lächelte schief. »Ich muß mich bei der Kleinen entschuldigen. Ich war ziemlich ruppig mit ihr.«
»Das macht nichts«, sagte Gabi. »Sie wird es überleben.« Sie grinste. »Wer uns erträgt, muß schon ein dickes Fell haben, weißt du das nicht mehr? Uns zu Freunden zu haben bedeutet ein tägliches Überlebenstraining.« Sie wurde übergangslos wieder ernst. »Also - was war los?«
Warum erzählte sie ihr nicht einfach, was geschehen war? Gabi war der einzige Mensch auf der Welt, dem sie ihr Erlebnis am Mitternachtssee anvertrauen konnte und die weder über sie lachen noch darüber reden würde, nicht einmal mit ihrem Mann, das wußte sie.
Sie wollte es sogar. Aber sie konnte nicht. Vielleicht hätte sie es gekonnt, bevor sie von Rum hold und der Sturmflut erfahren hatte, aber dieses Wissen, so bruchstückhaft und unvollkommen es war, machte es ihr unmöglich. So zuckte sie zur Antwort nur die Achseln.
»Ich weiß es selbst nicht«, log sie. »Ich bin wahrscheinlich einfach überreizt. Wir haben uns schon den ganzen Tag angegiftet, nicht erst, seit wir hier sind. Und noch dazu völlig grundlos.«
»Oh, so grundlos ist das meistens nicht«, sagte Gabi überzeugt. »Glaub mir, ich kenne das. So was passiert Raine rund mir dauernd.« Sie schüttelte den Kopf und wandte sich ab, um den Kaffee zuzubereiten.
Liz sah ihr schweigend dabei zu. Sie war gerne hier. Der Anblick erinnerte Liz an ihre eigene, schäbige Küche in Eversmoor, obwohl - oder vielleicht gerade weil - es wohl kaum zwei krassere Gegensätze gab - dies hier war eine supermoderne Küche; ein Ungeheuer aus Kunststoff und Glas, in der vom elektrischen Dosenöffner bis hin zum computergesteuerten Mikrowellenherd schlichtweg alles zu finden war, was gut oder wenigstens teuer war. Trotzdem hätte sie nicht lange überlegen müssen, hätte man sie vor die Wahl gestellt, sich für eines der beiden Extreme zu entscheiden.
»Sag mal, ehrlich - bereust du es wirklich nicht, in diese Ruine hin ausgezogen zu sein?« fragte Gabi, während sie Kaffeepulver in die Maschine tat und zusah, wie sich der durchsichtige Wassertank automatisch füllte, als sie den Deckel schloß. »Manchmal schon«, gestand Liz. Sie lächelte. »Vor allem, wenn ich das hier sehe. Aber im großen und ganzen ...« Sie schwieg einen Moment, fast, als müßte sie wirklich über diese Frage nachdenken (sie mußte es nicht), dann schüttelte sie den Kopf. »Nein«, sagte sie. »Es gibt ein paar Nachteile, sicher. Aber wenn ich die große Bilanz ziehe...«
»Nach sechs Monaten?« unterbrach sie Gabi. »Ein bißchen früh, nicht?« Ihr Staunen war geschauspielert, und nicht einmal sehr gut. Es war eine Fortsetzung des Gespräches von gerade. Gabi wäre nicht Gabi, wenn sie so schnell aufgegeben hätte.
»Kaum«, antwortete Liz. »Ich hätte dir die gleiche Antwort auch nach sechs Wochen gegeben, wenn du mich gefragt hättest. Und das wird sich auch in sechs Jahren nicht ändern.« Aber schon während sie diese Worte aussprach, fragte sie sich, ob das wohl wirklich die Wahrheit war. Sicher, sie war überzeugt davon, glaubte es selbst - aber sie wußte auch, daß man oft an Dinge aus dem einzigen Grund glaubte, daß man sie glauben wollte. Und auch Gabi war keineswegs überzeugt.
»Du bist nicht glücklich«, behauptete sie gerade heraus. »Irgendwas stimmt nicht zwischen Stefan und dir. Was ist es?«
Liz schwieg. Sie wollte nicht antworten - sie konnte es nicht einmal, in diesem Moment, ganz einfach, weil sie die Antwort nicht wußte - und gleichzeitig spürte sie, daß Gabi der Wahrheit vielleicht näher gekommen war, als sie selbst ahnte. Irgend etwas stimmte wirklich nicht mehr zwischen Stefan und ihr. Aber sie wußte nicht, was.
»Unsinn«, sagte sie schließlich. »Es gab ... ein paar Meinungsverschiedenheiten in den letzten Tagen. Das war alles. Streitet ihr euch niemals?«
»Doch«, antwortete Gabt ernst »Ziemlich oft sogar. Aber das ist etwas anderes. Wir zanken uns, aber zwischen Stefan und dir ...«
»Ist alles in Ordnung«, unterbrach sie Liz, jetzt sehr viel heftiger und so laut, daß sie selbst erschrocken zusammen fuhr. Sehr viel leiser fuhr sie fort: »Wirklich, Gabi. Es ist alles in Ordnung. Das heißt, es ist nichts in Ordnung, aber...«
»Aber?« hakte Gabi nach, als sie nicht weiter sprach.
»Ich weiß es selbst nicht«, gestand Liz. »Ich bin ein bißchen überempfindlich in den letzten Tagen. Stefan kann nichts dafür, wirklich.« Plötzlich begriff sie, daß sie das alles beinahe wörtlich vor weniger als einer Minute schon einmal gesagt hatte. Sie begann Gabi auf den Leim zu gehen. Noch ein paar Augenblicke, und sie würde ihr erzählen, was wirklich geschehen war.
Und was wäre so schlimm daran? dachte sie. Sie fand keine Antwort darauf, wie auf so vieles, was sie sich in den letzten Tagen gefragt hatte. Natürlich gab es diese Antworten, so viele sie haben wollte, und eine davon war zum Beispiel die, daß sie Gabi nicht in all dies hineinziehen wollte oder daß es ihr einfach unangenehm war, zuzugeben, daß sie in den letzten Tagen ernsthaft begonnen hatte, an ihrem Verstand zu zweifeln.
Aber all das wäre nicht die Wahrheit gewesen. Die Wahrheit war sehr viel einfacher - und sehr viel erschreckender:Sie hatte Angst, nicht um sich, sondern um Gabi. Sie konnte es nicht begründen, aber sie spürte, daß es wichtig für Gabi war, nichts von alledem zu wissen. Vielleicht sogar lebenswichtig.
»Was macht der Kaffee?« fragte sie.
Gabi sah sie ernst an. Man mußte wohl nicht einmal so sensibel sein wie sie oder sie so lange kennen, um zu spüren, wie es unter der von Liz so mühsam zur Schau gestellten Beherrschung aussah. Aber sie kannten sich auch lange genug, daß Gabi erst gar nicht versuchte, jetzt noch irgendetwas von ihr zu erfahren. Jedes weitere Wort in diese Richtung würde sie nur noch verstockter machen. Sie runzelte die Stirn, schüttelte mit einem bedauernden Seufzen den Kopf und sah flüchtig zum Kaffeeautomaten hinüber.
»Gleich«, antwortete sie. »Sei ein Schatz und hilf mir, ihn reinzubringen. Weißt du noch, wo die Tassen stehen?«
16.
Die Stimmung war spürbar besser geworden, als sie zu den anderen zurückgingen; Liz mit einem Tablett voller Tassen und Löffel beladen, Gabi mit der dampfenden Kaffeekanne in der rechten und einer elektrischen Warmhalteplatte, deren Schnur sich aufgewickelt hatte, so daß der Stecker klappernd hinterher schleifte, in der linken Hand. Von der aggressiven Spannung war nicht mehr viel geblieben - Rainer hatte eine Platte aufgelegt und das Licht gedämpft,so daß der Großteil des Zimmers jetzt im Dunkeln lag. Nur über dem Tisch brannte noch eine einsame Lampe und tauchte die gläserne Platte und die Gesichter Stefans und der anderen in gelbes Licht und schwarzbraune tiefe Schatten. Der Anblick erinnerte Liz an eine Spielhölle, wie man sie in zweitklassigen Kriminalfilmen sieht. Dazu passend war der Tisch nun leer geräumt - selbst Rainers Aschenbecher war verschwunden - und balancierte auf seiner Sessel lehne -, und auf dem polierten Glas lag wieder der Stapel mit Spielkarten, den Stefanie vorhin so hastig weggeräumt hatte.
»Kaffee!« rief Gabi. »Jetzt hört auf, Haus und Hof zu verspielen, und trinkt erst einmal.« Sie setzte die Warmhalteplatte ab - nicht auf dem Tisch, wie Liz mit einem leisen Gefühl der Verwunderung registrierte, sondern auf einem kleinen Blumenhocker, der unter ihrem Gewicht bedrohlich zu schwanken begann -, nahm Liz das Tablett aus den Händen und machte eine Kopfbewegung zu Rainer, den Stecker der Heizplatte einzustecken.