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Und die Veränderung hatte nicht nur ihr Inneres ergriffen. Auch ihr Körper hatte sich überraschend schnell dem Leben hier draußen angepaßt. Sie war eine neue Liz, zwar noch die gleiche schlanke junge Frau mit dem kurzgeschnittenen schwarzen Haar, den dazu passenden dunklen Augen und einem Mund, über den sie sich jeden Tag ärgerte, seit sie alt genug geworden war, zum ersten Mal bewußt in einen Spiegel zu sehen. Er war zu groß. Er war zu groß gewesen, als sie ein Kind gewesen war, und daran hatte sich nichts geändert, obwohl aus dem häßlichen Entlein von damals mittlerweile der sprichwörtliche Schwan geworden war. Sie war keine Schönheitskönigin. Aber aus dem häßlichen, vorlauten kleinen Mädchen war eine halbwegs hübsche, vorlaute junge Frau geworden. Und hier draußen war sie gewissermaßen zum zweiten Mal geboren worden. Nicht jünger. Nicht schöner oder häßlicher - aber anders. Unter ihrer glatten, make-up-verwöhnten Haut waren harte Muskeln herangewachsen. Ihr Teint war jetzt dunkler und zugleich frischer geworden, und sie geriet jetzt nicht mehr außer Atem, wenn sie mehr als zehn Stufen hintereinander hinauf lief.

Sie öffnete die Augen, lehnte sich weit hinaus und ließ den Blick über den Hof schweifen. Sie begann jeden Tag mit diesem Rundblick, unabhängig vom Wetter oder der Zeit. Der Anblick war ihr in den letzten Monaten vertraut geworden, aber sie genoß ihn jeden Morgen neu, und er erfüllte sie immer noch mit der gleichen Mischung aus Besitzer stolz und Unglauben, daß das alles wirklich ihnen gehören sollte.

Der Hof war nicht groß, aber wie alles war auch der Begriff Größe relativ - einer von Stefans typischen Sprüchen, mit denen er bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit um sich warf, hier paßte er ausnahmsweise.

Für sie war er groß; auf seine Art sogar größer als die glas und beton gesäumten Straßen Frankfurts, in denen sie aufgewachsen war - ein asymmetrisches Viereck aus festgetrampeltem Lehm, zur Rechten von einem flachen, reetgedeckten Gebäude begrenzt, in dem früher einmal die Ställe untergebracht gewesen waren. Von ihrer erhöhten Warte auswirkte es schräg und windschief, fast, als bewahre es nur eine Laune des Zufalls noch vor dem Umfallen. Aber sie wußte, daß das nicht stimmte - eine optische Täuschung, deren Grund sie bis heute nicht herausgefunden hatte. Das genaue Gegenteil war der Falclass="underline" Von allen Gebäuden des Hofes war der Stall noch am ehesten in einem Zustand, den man mit einigem guten Willen als leidlich bezeichnen konnte. Boden und Außenwände bestanden aus gegossenem Beton - was nach Stefans Worten ein Sakrileg ohnegleichen darstellte, aber wenn, dann war es ein sehr haltbares Sakrileg -, und das Strohdach war trotz seines Alters noch in einem erstaunlich guten Zustand. Damals hatten die Leute eben noch für die Ewigkeit gebaut. Sie hatten vor, den Stall später zur Hälfte in eine Garage mit angeschlossener Werkstatt um zubauen und in der anderen Hälfte einen großzügigen Partyraum einzurichten. Das betrachtete Stefan sonderbar erweise nicht als Sakrileg. Neben dem Stall befand sich eine wuchtige Balkenkonstruktion, drei Meter im Quadrat und mit schweren, pechimprägnierten Eisenbeschlägen versehen, unter der die längst ausgetrocknete Jauchegrube lag, zusätzlich gesichert mit einem rostzerfressenen Gitter aus daumendicken Stäben, die irgendein besorgter Vorbesitzer vor dreißig oder mehr Jahren angebracht hatte, um zu verhindern, daß jemand in die Grube fiel und an seinem eigenen Mist erstickte. Links der Schuppen, höher und wuchtiger als der Stall, aber in einem wesentlich schlechteren Zustand. Irgendwann einmal würden sie ihn abreißen, wenn er nicht vorher von selbst zusammenfiel wie ein Kartenhaus, und statt dessen einen überdachten Swimmingpool dort anlegen. Im Moment stand er so gut wie leer und beherbergte außer Stefans feuerrotem Jaguar nur noch das Wrack eines rostzerfressenen Traktors, den sie - ohne es zu wissen - zusammen mit dem Hof und einem ganzen Sammelsurium rostigen Gerümpels gekauft hatten und der wahrscheinlich noch aus der Zeit vor der letzten Sintflut stammte. Später, wenn der Verkauf von Stefans neuem Roman - und damit die Tantiemenzahlungen - richtig angelaufen waren und ihr geschröpftes Bankkonto sich erholt hatte, würden sie vielleicht einen neuen Traktor anschaffen und auf einem der jetzt brachliegenden Felder Mais oder Hafer anpflanzen. Vielleicht auch nur Sonnenblumen, dachte Liz spöttisch. Es brachte gewisse unbestreitbare Vorteile mit sich, nicht von dem leben zu müssen, was der Hof erwirtschaftete.

Carry, der schottische Schäferhund, der darüber wachte, daß niemand kam und ihnen nachts den Hof über dem Kopf weg stahl, bellte ein fröhliches Guten Morgen zu ihr hinauf, und wie zur Antwort erklang vom Misthaufen hinter dem Stall das Kikeriki Sir Winstons, ihres Hahns. Zusammen mit dem halben Dutzend Hühner, das sich bis heute weigerte, auch nur ein einziges Ei zu legen, einem lebenden Rasenmäher in Gestalt eines Schafes und drei grauen Stallhasen bildeten sie ihr ganzes Vieh. Nicht sehr viel im Vergleich mit den anderen Höfen in der Nachbarschaft, aber dafür Vieh, das in einer ungleich glücklicheren Lage war, denn wenn sie nicht vorher der Schlag traf oder sie an Überfettung starben, würden sowohl die Hühner als auch die Hasen - Liz hatte jedem von ihnen einen Namen gegeben und sie in ihr Herz geschlossen - wohl ihr hundertstes Dienstjubiläum hier auf dem Hof feiern. Allein der Gedanke, sie zu schlachten oder gar zu essen, bereitete Liz echte körperliche Übelkeit.

Ihr Blick wanderte weiter und verharrte am zerfallenen Gerippe des ehemaligen Gemeindehauses, von dem nur noch ein paar baufällige Mauerreste und geschwärzte Dachsparren übrig geblieben waren. Wie immer blieb Liz' Blick ein wenig länger an dem Gemeindehaus hängen. Sie wußte nicht, warum, aber sie hatte in dieser halbverkohlten Ruine schon immer etwas Besonders gesehen. Auf eine schwer zu beschreibende Art wirkte sie zugleich abstoßend und faszinierend. Aus einem bestimmten Blickwinkel betrachtet, wirkten die vermengten Dachbalken wie das Gerippe eines gigantischen Urzeittieres, das den Abgrund der Zeit überwunden hatte, um hier zu sterben.

Natürlich hatten sie sich erkundigt, was damals hier geschehen war, vor gut dreißig Jahren - genauer gesagt, sie hatten es versucht. Es war lange her, fast ein halbes Menschenalter, und niemand schien heute mehr zu wissen, was damals wirklich passiert war, ob - und wenn ja - wie viele Menschenleben der Brand gefordert hatte, wie er überhaupt ausgebrochen war. Für eine Weile war Liz beinahe überzeugt gewesen, daß die Menschen hier in der Gegend einfach nicht über das reden wollten, was damals geschehen war, aus welchem Grund auch immer. Vielleicht gab es ein finsteres Geheimnis um diese Ruine und das Feuer, eine ostfriesische Variante von McBeth, eine finstere Geschichte um Intrigen, Verrat und Mord, die in einem flammenden Inferno geendet hatte. Vielleicht war es auch nur die Unachtsamkeit eines Knechtes gewesen, der im Bett geraucht hatte und zu spät merkte, daß die Asche, die auf den Boden fiel, seine eigene war. Am wahrscheinlichsten - aber auch am langweiligsten, dachte Liz - war es etwas so Banales wie eine umgestoßene Petroleumlampe gewesen oder ein Funke, der aus dem Ofen fiel. Trotzdem favorisierte sie ganz persönlich den Gedanken um eine große Tragödie. Er gefiel ihr. Und sie war der Meinung, daß zu einem Hof wie diesem ein bißchen Spuk gehörte.