»Setz dich, Liebes«, sagte sie, während sie bereits Kaffee in eine der Tassen goß. Es waren sehr große Tassen: Liz rechnete sich überschlägig aus, daß die Kanne leer sein mußte, wenn sie alle auch nur eine Tasse nahmen, und fragte sich, wozu sie wohl die Heizplatte mitgenommen hatte. Nun ja - Gabi war noch nie eine sehr logische Person gewesen.
»Du nimmst noch immer so entsetzlich viel Milch?« vermutete Gabi.
Liz nickte. »Und noch mehr Zucker. Fünf Stücke, bitte.«
Gabi verdrehte die Augen, zählte aber gehorsam fünf Zuckerwürfel ab und rührte ein paar mal um, ehe sie die Tasse Liz reichte.
»Und so etwas kann man trinken?« erkundigte sich Walter.
»Wenn man nicht den Fehler begeht, herumzurühren, ja«, antwortete Liz ernsthaft. Sie nahm einen winzigen Schluck des kochend heißen Getränkes und bedachte Walter mit einem spöttischen Blick. »Was bleibt mir auch anderes übrig?« fuhr sie fort. »Ich hasse Kaffee, wissen Sie? Aber heißes Wasser mit Büchsenmilch und Zucker schmeckt noch scheußlicher.«
Der junge Mann blickte sie einen Moment verwirrt an. Schießlich rettete er sich in ein unsicheres Lachen. Seine Erleichterung war nicht zu übersehen, als Gabi auch ihm seine Kaffeetasse reichte und er sich dahinter verkriechen konnte.
Liz starrte ihn einige weitere Sekunden lang durchdringend an, ehe sie sich endlich zurück lehnte. Ihr Blick begegnete dem Gabis. Der Ausdruck darin war teilweise amüsiert, teilweise aber auch tadelnd - immerhin war Walter ihr Besuch, und vielleicht sollte Liz aufhören, ihre schlechte Laune an ihm auszulassen und auf ihm herumzutrampeln. Was sie mit ihm machte, war nicht besonders fair.
Aber sie hatte eigentlich auch gar keine Lust, zu irgendjemandem fair zu sein. »Wobei haben wir euch eigentlich vorhin gestört?« fragte sie, dem plötzlichen, boshaften Bedürfnis folgend, jemanden zu verletzen. »Bei einer Partie Strip-Poker?« Rainer, Walter und Stefan lachten leise, und auch das Mädchen begann albern zu kichern, aber in Gabis Augen flammte es ärgerlich auf - vielleicht weil sie als einzige spürte, daß die Frage vielleicht nicht ganz so scherzhaft gemeint war, wie die anderen zu glauben schienen. Und das war wohl auch der Grund, aus dem ihre Antwort sehr viel schärfer ausfiel als angemessen schien; nicht einmal in der Wortwahl, wohl aber im Tonfall.
»Nein«, fauchte sie. »Bei einer Geisterbeschwörung.«
Liz erstarrte. Für einen ganz kurzen Moment hatte sie das Gefühl, von einer unsichtbaren Hand berührt zu werden, die gleichzeitig eiskalt wie brennend heiß war: Es war jene Art von enervierendem Schrecken, der unmöglich mit Worten zu beschreiben war und sie mit echter körperlicher Übelkeit erfüllte.
Einen Moment lang starrte sie Gabi beinahe entsetzt an, ehe sie begriff, daß es gar nicht das war, was Gabi gesagt hatte. Was sie so furchtbar traf, war das, was es bedeutete:Die Wirklichkeit hatte sie eingeholt.
»Was... hast du gesagt?« murmelte sie.
Gabi wollte antworten, aber Stefan war schneller. »Es ist natürlich keine echte Geisterbeschwörung«, sagte er, rasch und beinahe selbst in beschwörendem Tonfall; einem Tonfall, dessen Bedeutung Liz nur zu klar war. Er hatte es ihnen gesagt. Er hatte Rainer und diesen beiden wildfremden Kindern erzählt, was Liz passiert war. Es dauerte einen Moment, bis sie überhaupt begriff, was sie soeben gedacht hatte. Es war, dachte sie schockiert, als hätte er Nacktfotos von ihr herum gezeigt. Voller unverhohlener Wut starrte sie ihn an, aber Stefan lächelte nur und nippte an seinem Kaffee.
»Liz ist in den letzten Tagen etwas empfindlich, was solche Dinge angeht«, sagte er. Die Worte galten Gabi, aber er sah Liz dabei unverwandt an, als warte er auf eine ganz bestimmte Reaktion. »Sie... hatte ein paar sonderbare Erlebnisse, glaube ich.«
»Erlebnisse?« fragte Gabi neugierig. »Oh, wie interessant. Erzähl uns davon!«
»Nein. « Erst als sie bemerkte, daß jedermann sie anstarrte, begriff sie, daß sie das Wort beinahe geschrien hatte. Sie lächelte verlegen. »Es war nichts«, sagte sie stockend. »Wirklich. Es war...« Sie brach ab, suchte einen Moment nach Worten und trank einen Schluck Kaffee, um etwas Zeit zu gewinnen.
»Meine Nerven sind ein bißchen angegriffen, in der letzten Zeit, das ist alles. Es war nicht der Rede wert. Wirklich.«
»Doktor Swensen war da anderer Meinung«, sagte Stefan. Liz hatte plötzlich das dringende Bedürfnis, ihm den Rest ihres Kaffees ins Gesicht zu schütten. Warum sagte er das? Warum, zum Teufel, brachte er sie in eine solche Situation ? Diesmal war es Stefanie, die sie davor bewahrte, ihm zu antworten und damit vollends einen Streit vom Zaun zu brechen.
»Sie sollten darüber reden«, sagte sie.
»Ach?« machte Liz. »Sollte ich?«
Stefanie nickte. »Es kann auf keinen Fall schaden. Und meistens erleichtert es ungemein. Glauben Sie mir.« Liz starrte sie mit all der Feindseligkeit an, die eigentlich Stefan gebührte. »So?« sagte sie böse. »Und woher wissen Sie das alles so genau? Sind Sie zufällig Psychologin?«
»Noch nicht ganz«, antwortete Stefanie offen. »Aber in einem Jahr hoffe ich mein Examen zu machen. Dann bin ich es.«
»Und außerdem ist sie ein Medium«, fügte Gabi hinzu, bevor Liz ihr auch nur einen Teil der Unfreundlichkeiten an den Kopf werfen konnte, die sie sich zurechtgelegt hatte. »Und noch dazu ein ziemlich begabtes.«
»Ein Medium?« Liz starrte das Mädchen entgeistert an.
Verdammt, war das wirklich noch Zufall? Stefanie lächelte, aber sie tat es auf eine ganz, ganz andere Art als bisher. An diesem Lächeln war nichts Schüchternes mehr: Es war jene Art von Lächeln, das sie auch an Stefan manchmal beobachtete, wenn er zum Beispiel in einem Lokal oder der U-Bahnerkannt und angesprochen wurde oder, wenn ihn jemand unversehens um ein Autogramm bat; jenes Lächeln, das verlegen wirken sollte und doch ganz deutlich verriet, wie sehr er es genoß, bewundert zu werden. An Stefan hatte sie dieses Lächeln schon nicht gemocht; an diesem Mädchen fand sie es direkt obszön.
»Ein Medium?« fragte sie noch einmal. »Und was meditieren Sie so?«
Wenn Stefanie den beleidigenden Unterton überhaupt bemerkte, so reagierte sie jedenfalls nicht darauf. »Sie hören sich an, als würden Sie nicht an Parapsychologie und Übersinnliches glauben«, sagte sie.
»Sollte ich das?«
»Nun, bei den Büchern, die Ihr Mann schreibt...«, wandte Walter ein, wurde aber sofort von Liz unterbrochen.
»Sie meinen also, ich müßte an Geister glauben, weil mein Mann Horror-Geschichten schreibt. Und wenn ich mit einem Zigarrenfabrikanten verheiratet wäre, müßte ich selbstverständlich auch Kettenraucher in sein«, sagte sie spitz. Walter fuhr zusammen und duckte sich hinter seine Kaffeetasse, während Stefanies einzige Reaktion darin bestand, daß ihr Lächeln noch eine Spur kälter wurde. Da war nicht mehr viel von dem schüchternen kleinen Mädchen an ihr. Liz erinnerte sich nicht, sich jemals so gründlich in einem Menschen getäuscht zu haben.
»Es ist wirklich nur ein harmloser Spaß, Liebes«, sagte Gabi. »Es kann überhaupt nichts passieren. Und es ist wirklich interessant. Sei keine Spielverderberin.«
»Wer sagt denn, daß ich das bin?« fragte Liz. Die Worte kamen fast gegen ihren Willen über ihre Lippen, und als sie begriff, was sie da sagte, erschrak sie. Verdammt, was redete sie da? Sie wollte nichts mit diesem Unsinn zu tun haben, ganz egal, ob Gabi sie nun für eine Spielverderberin hielt oder nicht! Um so entsetzter war sie, sich selbst weiter reden zu hören:»Ich weiß ja nicht einmal, worum es überhaupt geht. Eine Geisterbeschwörung, sagen Sie?«
Die letzten Worte galten Stefanie, die ebenfalls ein bißchen überrascht zu sein schien, aber nach kurzem Zögern nickte. »Es ist im Grunde ganz einfach«, erklärte sie. »Man braucht fast nichts zu tun, und die einzigen Requisiten sind ein Glas und ein bißchen Papier.« Sie lächelte, und für einen Moment wurde dieses Lächeln fast verlegen. Aber sie fing sich schnell wieder. Sie war jetzt nicht mehr das schüchterne kleine Mädchen, sondern eine junge Frau, die eine Rolle spielte, und das hundertprozentig. Und auf dem Terrain, auf das sie Liz mit diesen wenigen Worten hinaus gelockt hatte, war sie ihr eindeutig überlegen.