Das ist ein echter Geist, du jämmerliche kleine Hochstaplerin, dachte Liz, und wieder war es, als zwinge sie ein anderer, diese Dinge zu denken. Es war schlimmer, als Opfer eines fremden Willens zu sein, denn ihr eigenes Bewußtsein war nicht ausgeschaltet, nicht besiegt, sondern zu etwas Fremdem und Feindlichem pervertiert. Es war das Entsetzlichste, was Liz jemals erlebt hatte. Und sie konnte nicht einmal mit einem Blick um Hilfe bitten! »Wer bist du?« flüsterte Stefanie. »Sag... deinen Namen!«
Das Glas zuckte nach rechts, nach links und wieder nach rechts. Schließlich berührte es ganz leicht die ›Nein‹-Karte.
»Sag deinen Namen!« wiederholte Stefanie. »Ich befehle es.«
MEINEN NAMEN? schrieb das Glas. WOZU WILLST DU DEN WISSEN? »Wer bist du?« wiederholte Stefanie. Ihre Stimme zitterte vor Anstrengung. Obwohl es nicht sehr warm im Zimmer war, glänzte ihr Gesicht vor Schweiß. Liz konnte ihre Angst regelrecht riechen. »Sag deinen Namen! Ich befehle es! Wie ist dein Name!« GODZILLA schrieb das Glas.
»Ha!« machte Stefan. »Das ist...«
Das Glas bewegte sich weiter, so rasch, daß sie kaum mehr richtig sahen, welche Karten sein Rand berührte.
»Be - a - en - es - ha - e - e«, buchstabierte Gabi - »Banshee...« Sie runzelte die Stirn und sah erst Stefanie, dann Liz an. »Was heißt das?« Niemand antwortete. Liz saß da, starr, gelähmt vor Schrecken und Unglauben, und auch Stefan wirkte verwirrt. »Bist du das?« fragte Stefanie. Das schwache gelbe Licht ließ ihr Gesicht blaß und krank erscheinen, und ihre Stimme hatte einen sonderbaren, hohlen Klang angenommen.
Aus dem Spiel war Ernst geworden, tödlicher Ernst sogar, dachte Liz entsetzt. Dabei war Stefanies Beschwörung durch und durch genau der Humbug gewesen, als den Stefan ihn bezeichnete. Nein, es war genau anders herum: Dieses Etwas hatte gewartet, geduldig auf eine Gelegenheit gewartet, aus seinem Versteck hervorzubrechen. Es war ihr gefolgt. Sie war ihm in Wahrheit nicht eine Sekunde lang wirklich entkommen. Nein, es hatte einfach abgewartet und gelauert, und es hatte dieses harmlose Spiel genommen und sich zu eigen gemacht.
»Wer bist du?« stammelte Stefanie. In ihrer Stimme war jetzt wirkliche Angst. Ihre Hände zitterten.
DER TOD, antwortete das Glas.
»Das ist geschmacklos«, sagte Stefan leise. »Ich mache das nicht mehr lange mit. Wer von euch ist das?«
Das Glas schoß auf ihn zu, verharrte einen Moment lang, zitterte - und begann wieder zu kreisen. STIRB schrieb es.
»Wen... meinst du?« sagte Stefanie. Ihre Stimme zitterte jetzt unüberhörbar. Vielleicht begriff sie, daß sie zum ersten Mal wirklich das getan hatte, was sie sonst so überaus geschickt behauptete. Die Geister, die sie rief... Liz spürte ein absurdes Gefühl von Befriedigung. Ein Teil von ihr war noch immer mit diesem anderen verbunden; sie teilte seine Empfindungen, auch wenn es sie jetzt nicht mehr zwang, seine Gedanken zu denken.
EUCH ALLE, antwortete das Glas.
»Das... ist nicht mehr komisch, Stefanie«, sagte Stefan gepreßt. »Ich weiß nicht, wie Sie es machen, aber es ist nicht witzig.«
»Das soll es auch nicht sein«, antwortete Gabi an ihrer Stelle. »Stefanie ist das nicht, Stefan, ob du's nun glaubst oder nicht. Und ich ebenso wenig.«
»Natürlich glaube ich dir«, antwortete Stefan böse. »Was da antwortet, das sind die Geister der Toten, wie?«
Das Glas rückte nach rechts und schoß in die Lücke, wo die ›NEIN‹-Karte gelegen hatte. Stefan erbleichte ein ganz kleines bißchen, aber dann loderte Zorn in seinem Blick.
Wütend richtete er sich auf, packte Gabis Handgelenk und drückte ihren Arm so unsanft zur Seite, daß sie einen halblauten Schmerz laut ausstieß.
»He da«, sagte Rainer. »Nicht ganz so grob, ja?«
Stefan fuhr herum. In seinen Augen blitzte es streitlustig. »Was heißt das?« fauchte er. »Ich hätte euch für anständiger gehalten. Ich habe dir erzählt, was mit Liz war, aber ich habe es verdammt noch mal nicht getan, damit ihr einen eurer blöden Scherze macht!« Rainer seufzte, zog an seiner Pfeife und zog seine Hand zurück.
Das Glas bewegte sich weiter, prallte gegen das ›T‹, stieß mit einem fast wütend wirkenden Ruck auch das ›O‹ vom Tisch und fegte das ›T‹ hinterher. Gabi stieß einen leisen, quietschenden Laut aus und schlug die Hand vor den Mund. Stefans Kopf flog hoch. Seine Augen flammten. »Das ist nicht komisch«, sagte er noch einmal. »Und wenn Sie glauben, daß ich darüber lache, Walter, dann...« Auch Walter zog die Hand zurück, so daß jetzt nur noch Stefans und Liz' Finger den Fuß des Römers berührten.
Das Glas bewegte sich weiter.
»Du?« Stefans Augen weiteten sich ungläubig. »Aber...«
»Das ist sie nicht«, sagte Stefanie, leise, aber sehr bestimmt. Sie gab Walter einen Wink. Der Junge beugte sich zur Seite, nahm rasch Block und Stift an sich und schrieb hastig mit, was das Glas buchstabierte.
»Blödsinn!« fauchte Stefan. »Natürlich schiebt sie das Glas.«
»Aber nicht aus freiem Willen«, sagte Stefanie. »Sie ist ...«
Mit einem Schrei zog Liz die Hand zurück. Das Glas bewegte sich weiter, kreiste wie irrsinnig hin und her und fuhr fort, immer schneller und schneller gegen die Karten zustoßen.
»Walter! Schnell!« keuchte Gabi. »Schreib es auf! Schreib es auf!«
Walter gehorchte - wenigstens versuchte er es. Aber die Bewegungen des Glases wurden immer schneller, gleichzeitig ruckhafter und unkontrollierter, bis es so schnell über, den Tisch schoß, daß es die Karten von der Platte katapultierte, gegen die es stieß. Liz sah die Bewegung im letzten Augenblick. Etwas im rasenden Hin und Her des Glases änderte sich; ein kurzer, harter Ruck - und plötzlich fegte das Glas wie ein kleines gefährliches Geschoß auf sie zu, verfehlte ihr Gesicht um Millimeter und zerbarst klirrend hinter ihr an der Wand.
Stefan und Rainer sprangen erschrocken hoch, während Gabi einen keuchenden Laut ausstieß und die Hand vor den Mund schlug. Auch Walter richtete sich kerzengerade auf und wurde bleich. Nur Stefanie rührte sich nicht, aber ihre Augen waren weit und dunkel vor Furcht.
»Ist dir etwas passiert?« fragte Stefan erschrocken.
Liz war nicht ganz sicher, aber sie schüttelte den Kopf.
Das Glas hatte sie nicht durch Zufall verfehlt. Es war eine Warnung gewesen, eine letzte Warnung vielleicht, mit dem aufzuhören, was sie taten.
»Ich bin... in Ordnung«, sagte sie stockend. »Das Blatt. Was... was haben Sie aufgeschrieben, Walter?«
Walter blickte sie einen Moment lang an, als begriffe er gar nicht, was sie gesagt hatte. Dann lächelte er nervös, riß das Blatt mit einem Ruck von seinem Block und reichte es Liz. Mit bebenden Fingern nahm sie es entgegen und überflog den Text, den Walter hastig darauf gekritzelt hatte: NIRREAN ENIELK UD NENNEOK UZ NEMMOKTNE RIM TBUALGEG HCILKRIW UD TSAH »Aber das... das ergibt überhaupt keinen Sinn«, sagte Stefan. Seine Stimme klang eher erleichtert als verwirrt. Aber nur für einen Moment.
»Oh, doch«, widersprach Stefanie. Liz war sich nicht sicher, was sie wirklich in ihren Augen las - Furcht oder Mitleid oder vielleicht auch beides, als sie auf sah und sie anblickte. »Es ergibt einen Sinn«, sagte sie. »Lesen Sie es rückwärts.« Liz tat es.
Und begann zu schreien.
17.
Stefan brach an diesem Abend zum ersten Mal mit einem seiner ohnehin sehr wenigen Prinzipien; nämlich dem, kein Fahrzeug mehr anzurühren, wenn er auch nur einen Tropfen Alkohol getrunken hatte. Er war nicht betrunken, aber er war auch alles andere als nüchtern: Die fünf oder sechs Gläser Wein, die er im Laufe des Abends getrunken hatte, zeigten Wirkung, besonders, als sie das Haus verließen und er in die eiskalte Nachtluft hinaustrat. Wären sie einer Polizeistreife in die Hände gefallen, hätte er sich nicht nur von seinem Führerschein, sondern auch gleich von den Tantiemen seines nächsten Buches verabschieden können.