Aber gleich, was es nun wirklich gewesen war - ein dummer Zufall oder eine niemals niedergeschriebene Tragödie -, es war ein entsetzliches Feuer gewesen. Die Flammen hatten nichts verschont, was auch nur irgendwie brennbar gewesen wäre. Die Balken dort unten hatten sich in pure Holzkohle verwandelt, und selbst die wenigen Mauerreste waren zu schwarzer Schlacke geworden, die nur noch ihr eigenes Gewicht zusammen hielt. Bis heute war es ihr rätselhaft geblieben, daß der Brand damals nicht auf die übrigen Gebäude des Hofes übergegriffen hatte. Das zweistöckige Wohnhaus war wie die Stallungen und der Schuppen strohgedeckt. Ein einziger Funken mußte hier genügen, um eine Katastrophe auszulösen. Aber es war nichts geschehen. Ein gnädiges Schicksal oder vielleicht auch nur eine Laune des Windes hatten den Hof davor bewahrt, ein Raub der Flammen zu werden.
Gottlob, dachte sie sarkastisch. Sonst hätten Stefan und sie es nicht für einen Spottpreis erwerben und sich den Traum vom alternativen Leben erfüllen können. Hinter der Ruine des Gesindehauses markierte der Zaun die Grenze des eigentlichen Gehöftes - oder sollte es jedenfalls tun. Im Moment bestand er lediglich aus einigen wenigen schräg stehenden Pfählen, zwischen denen man sich den dazugehörigen Draht zu denken hatte. Dahinter begann das wellige Grün der Wiese, auf der das Gras den Kampf gegen den wild wuchernden Klee schon lange aufgegeben hatte, schließlich ein schmaler Weg - eigentlich nur eine ausgefahrene Spur voller Steine und Erdbuckel, und dahinter endlich dichter Mischwald, aus dem manchmal kleine silberne und goldene Funken stoben - Sonnenlicht, das sich auf dem Wasser des kleinen Sees brach, der sich dahinter verbarg.
Bis zum jenseitigen Ufer dieses Sees reichte ihr Besitz, sogar noch ein Stück weiter, obwohl der Boden dort so sumpfig war, daß ihr Besitzanspruch dort nur mehr rein juristische Bedeutung hatte. Seltsam; sie lebten jetzt seit einem halben Jahr hier draußen - sechseinhalb Monate, wenn man es genau nahm -, aber sie hatte es immer noch nicht fertiggebracht, ihren gesamten Grund und Boden in Augenschein zu nehmen. Dieser Wald dort drüben zum Beispieclass="underline" jeder einzelne Baum, jeder Fuß breit Boden, jeder herabgefallene Ast und jeder Busch gehörten ihnen, aber sie war niemals tiefer als zwei-, dreihundert Schritte weit hineingegangen, auch nicht während der ersten Wochen, als sie die Arbeit auf dem Hof noch nicht so sehr in Anspruch genommen hatte wie jetzt.
Irgendwann würde sie es nachholen.
Irgendwann...
Liz lächelte, aber sie war selbst nicht ganz sicher, ob es ein spöttisches oder resignierendes Lächeln war. Es gab eine Menge Dinge, die sie sich irgendwann einmal nachzuholen vorgenommen hatte. Zu viele. Sie hatte geglaubt, hier etwas von der Ruhe zu finden, die sie in der Stadt immer vermißt hatten, aber das genaue Gegenteil war der Fall gewesen. Das ruhige Land leben, war nicht annähernd so ruhig, wie die dachten, die es nicht kannten. Seit sie hier herausgezogen waren, hatte sie weniger Zeit für sich als je zuvor.
Sie waren aus der Stadt geflohen, um ihrem Lärm und dem hektischen Leben zu entgehen, und Hals über Kopf in eine Fülle neuer und unerwarteter Verpflichtungen gestolpert. Tatsache war, daß sie praktisch jede Minute des Tages verplanen mußte, um mit ihrer Arbeit auch nur halbwegs zurande zu kommen. Dabei bewirtschafteten sie den Hof nicht einmal wirklich. Die Arbeit hier draußen war hart, und sie mußte die Zeit des Tages, die wirklich noch ihr gehörte, jetzt nach Minuten statt wie früher nach Stunden zählen.
Aber sie mußte gerecht sein - es war ein Streß ganz anderer Art als früher. Einer, aus dem sie Kraft gewann. Sie hatte lange gebraucht, bis ihr der Unterschied klar geworden war. Das Leben hier draußen war hart, aber im Gegensatz zu dem in der Stadt gab es ihr mehr, als es von ihr forderte.
Hinter ihr regte sich Stefan.
Sie drehte sich langsam um, stützte die Ellbogen auf der schmalen Fensterbank auf und betrachtete ihn zärtlich. Er schlief nicht mehr ganz, aber er war auch noch nicht ganz wach. Er war schon immer ein Langschläfer gewesen, und die gute Luft und die ungewohnte körperliche Arbeit sorgten jetzt mehr denn je dafür, daß er selten vor Mittag aus den Federn kam; der Grund zahlloser kleiner Kabbeleien zwischen ihnen, denn bei Liz war das genaue Gegenteil der Falclass="underline" Sie wußte selbst nicht genau, warum, aber aus der jungen Frau, die früher selten vor zehn aus den Federn gekommen war, war eine Frühaufsteherin geworden. Stefan dagegen schien sich allmählich in ein Murmeltier zu verwandeln. Wenn sie nicht auf ihn acht gab, dachte sie, dann würde er eines Tages überhaupt nicht mehr aufwachen, sondern in einen sechsmonatigen Winterschlaf fallen.
Wieder bewegte er sich im Halbschlaf. Sein Gesicht wirkte auf dem bunt gemusterten Kopfkissen schmaler, als es war, und das grelle Sonnenlicht ließ die kleinen Unreinheiten seiner Haut über deutlich hervortreten, wie auf einer jener ganz bewußt körnig gehaltenen Fotografien - oder einer schlechten Fotokopie. Trotzdem wirkte er auf schwer in Worte zufassende Weise jung: Stefan gehörte zu den beneidenswerten Menschen, die nie zu altern schienen. Er hatte wie neunzehn ausgesehen, als sie ihn kennengelernt hatte, und er war bis heute um keinen Tag älter geworden. Dabei war er damals neunundzwanzig gewesen, und in knapp drei Wochen würde er seinen fünfunddreißigsten Geburtstag feiern. Nicht einmal der sorgsam gestutzte Vollbart vermochte an diesem Eindruck etwas zu ändern. Stefan sah einfach immer aus wie neunzehn, gleich, ob er nun seinen abgewetzten Jeans-Anzug und ein verwaschenes Baumwollhemd oder einen Smoking trug, ob er mit ihr herum alberte oder auf allen vieren auf dem Teppich herum kroch, um mit einer jungen Katze zuspielen, oder im Scheinwerferlicht vor einem mit tausend Leuten besetzten Auditorium saß und vorlas - er sah aus wie neunzehn, und nichts, rein gar nichts, konnte irgendetwas daran ändern.
Und trotz dieses jugendhaften Aussehens war in seinem Gesicht etwas, das einen genau spüren ließ, daß er nicht das Kind war, das zu sein er gerne vorgab, eine Art... Ernsthaftigkeit und - ja, dachte Liz, auch wenn sie das Wort normalerweise für albern hielt und es nie benutzte - beinahe Würde,die nicht in, sondern vielmehr hinter seinen Zügen verborgen schien. Als wären die schmalen Augen mit den buschigen Brauen, die dünne, wie mit einem Lineal gezogene Nase und der Mund mit seinen stets zu einem freundlichen Lächeln verzogenen Lippen nichts als eine Maske; hinter der der wahre Stefan nur undeutlich und manchmal sichtbar wurde. Es war gerade dieses sonderbar Zwiespältige gewesen, was Liz vom ersten Moment so sehr an ihm fasziniert hatte, das Zwiespältige in seinem Aussehen wie auch in seinem Wesen.
Sie hatten sich in Frankfurt kennengelernt auf der ersten - und vorletzten - Buchmesse, die sie je besucht hatte. Sie war in Frankfurt geboren, in Frankfurt aufgewachsen und in Frankfurt zur Schule gegangen, und mit Ausnahme des obligatorischen Urlaubs auf Mallorca oder Ibiza, zu dem sie ihre Eltern jedes Jahr mitnahmen, hatte sie Frankfurt auch niemals verlassen. Und sie hatte auch nie zuvor eine Buchmesse besucht. Bücher interessierten sie nicht - Stefan hatte sie später einmal eine literarische Kannibalin genannt -, und hätte ihr irgend jemand prophezeit, daß sie einmal einen Schriftsteller heiraten würde, hätte sie ihn schlichtweg ausgelacht.
Aber es war geschehen.
Sie war auch nur mit zu dieser Buchmesse gegangen, um dem Drängen einer Freundin nachzugeben, und sie hatte diesen kleinen Gefallen bereits bereut, als sie in der Schlange vor der Kasse gewartet und sich die Beine in den Bauch gestanden hatte. Fünfundzwanzig Minuten, nur um sich anschließend zwei Stunden durch endlose, überfüllte Gänge voller rücksichtsloser Menschen und und stickiger Luft zu quälen. Irgendwo in diesem entsetzlichen Gedränge hatte sie ihre Freundin dann auch noch verloren, und nach einer Stunde vergeblichen Suchens hatte sie aufgegeben und war regelrecht geflohen. All diese lärmenden, lauten, drängelnden Menschen gaben ihr das Gefühl, nicht mehr atmen zu können. Die grellen Farben beleidigten ihr Auge, und die ungeheuren Mengen bedruckten Papier es (Wer in Gottes Namen las das alles?) schienen sie zu erschlagen.