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Sie hatte nicht einmal stehen bleiben wollen, aber sie war einfach eingekeilt worden; unfähig, auch nur einen Schritt vor oder zurück zu tun.

Und dann hatte sie ihn gesehen: einen jungen Mann in Jeans und kariertem Baumwollhemd, der auf einem der billigen weißen Plastik-Stühle an den Verlagsständen saß und auf seine Weise ebenso verloren und erschreckt aussah wie sie. Natürlich hatte sie nicht gewußt, wer er war. Aus irgendeinem Grund hatte er ihr einfach leid getan, sie hatte sich mit Ellbogen und Knien aus der verkeilten Masse herausgearbeitet und ihn einfach angesprochen. Sechs Monate später hatten sie geheiratet.

Stefan gähnte geräuschvoll, ohne dabei die Augen zu öffnen. Seine Hand tauchte unter der Bettdecke auf und tastete verschlafen nach der Stelle an seiner Seite, wo sie normalerweise lag, fand aber nur das leere Bett. Die Erkenntnis, daß Liz schon auf war, schien ihn endgültig zu wecken. Er blinzelte, hob müde den Kopf und starrte einen Atemzug lang auf das Laken, auf dem sich noch deutlich die Umrisse ihres Körpers abzeichneten.

»Guten Morgen«, sagte Liz.

Sein Kopf flog verdutzt herum. »Eh?«

»Ich sagte, guten Morgen, Langschläfer«, wiederholte sie. »Ich dachte schon, du wirst überhaupt nicht mehr wach.«

Stefan blinzelte in das grelle Sonnenlicht, vor dem sich ihre Gestalt nur als schwarzer, tiefenloser Schatten abzeichnete. »Wieso,... ich ...« Er brach verwirrt ab, gähnte und verrenkte sich halbwegs den Nacken, um auf den Wecker sehen zu können. Er blinzelte. Ein erst verwirrter, dann ein ungläubiger Ausdruck erschien auf seinem Gesicht.

»Morgen?« fragte er schließlich. »Wieso Morgen? Es ist mitten in der Nacht.« Seine Stimme wurde vorwurfsvoll. »Das ist Mord!«

»Es ist fünf Uhr.«

Stefan gähnte demonstrativ. »Sag ich doch. Mitten in der Nacht.« Er gähnte erneut, ließ den Kopf wieder in das Kissen fallen und zog die Decke bis zur Nase hoch. »Jemanden um diese Zeit zu wecken ist Körperverletzung«, nuschelte er. »Vorsätzliche Körperverletzung!«

»Für dich vielleicht.« Liz seufzte, stieß sich vom Fensterbrett ab und ging zum Bett hinüber, um mit einer einzigen Bewegung die Decke herunterzureißen. »Wenn du schon wach bist, kannst du genauso gut aufstehen und mir helfen, das Frühstück zu machen.«

»He! Moment mal. Ich...«

Sie bückte sich, hob das Kopfkissen vom Fußboden auf und erstickte seinen Protest mit einem wohl gezielten Wurf.

»Ich setze schon mal Wasser auf«, sagte sie, während sie zur Tür ging. »Beeil dich.«

»Aber es ist fünf Uhr früh, und...«

»Fünf Uhr siebzehn, um genau zu sein«, korrigierte ihn Liz nach einem Blick auf den Wecker. »Und es tut dir ganz gut, einmal ausnahmsweise vor dem Mittagessen aufzustehen. Wir wollen heute in die Stadt fahren, vergiß das nicht.«

»Aber doch nicht mitten in der Nacht!« kreischte Stefan in gespielter Verzweiflung. »Weißt du, wann ich ins Bett gekommen bin?« Er zog eine vorwurfsvolle Grimasse. »Ich habe bis eins gearbeitet, verfluchtes Weib!«

Liz schenkte ihm ein zuckersüßes Lächeln und zog die Tür hinter sich ins Schloß.

2.

Die Illusion, sich in einem behaglich eingerichteten Heim zu befinden, zerplatzte wie eine Seifenblase, als sie auf den Korridor hinaustrat und zur Treppe ging. Das Haus war alt, uralt sogar, mindestens zwei- oder dreihundert Jahre, vielleicht sogar mehr. Sein genaues Alter war nicht mehr festzustellen gewesen, und während der letzten dreißig Jahre hatte - mit Ausnahme eines irischen Ehepaares, das das Haus kurz vor ihnen erworben hatte, den Kampf gegen die baufälligen Gemäuer und den unermüdlich nagenden Zahn der Zeit aber schon bald wieder aufgab und fortgezogen war - niemand mehr auf dem Anwesen gelebt.

Entsprechend war sein Zustand gewesen, als sie hier hergekommen waren. Sie hatten zwei Wochen Tag und Nacht geschuftet, um wenigstens einen Teil des ehemaligen Wohnhauses wieder bewohnbar zu machen. Liz erinnerte sich noch gut an die Mischung aus Entsetzen, Unglauben und abgrundtiefer Enttäuschung, die sie gespürt hatte, als sie das allererste Mal hier herausgekommen waren. Sie hatten das Haus gekauft, ohne es auch nur gesehen zu haben. Der Preis war ein Witz gewesen - allein der Grund und Boden mußte das Dreifache wert sein, selbst hier -, und als sie im Büro des Maklers gesessen hatten, da hatte alles sehr einleuchtend logisch ausgesehen. Der Makler hatte kein Hehl daraus gemacht, daß das Anwesen stark renovierungs-bedürftig war, aber sie waren alle drei der Meinung gewesen, daß sich der Kauf schon als Kapitalanlage lohnte.

Trotzdem hatten sie nicht gewußt, daß sie praktisch eine Ruine erworben hatten. Liz war den Tränen nicht nur nahe gewesen, als sie das erste Mal hier herauskamen - sie hatte vor Enttäuschung geweint, und selbst Stefans unerschütterlicher Optimismus hatte einen spürbaren Dämpfer bekommen.

Natürlich hatten sie so ziemlich alles falsch gemacht, was man nur falsch machen konnte.

Sie waren beide übermüdet gewesen, denn sie waren die Nacht durchgefahren, um möglichst schnell zu ihrem neuen Domizil zu kommen. Sie hatten die vergangenen Wochen mit praktisch nichts anderem zugebracht, als über ihr neues Zuhause zu reden, es in Gedanken um- und auszubauen und einzurichten, bis sie sich selbst in eine Euphorie hinein gesteigert hatten, die sie etwas nur wenig Kleineres als den Buckingham-Palast erwarten ließ. Und sie waren im Herbst gekommen, an einem diesigen, windig kalten Morgen, kurz nach Sonnenaufgang. Das Haus war kalt gewesen und dunkel, es hatte durch alle Fenster und Türen gezogen, und die Feuchtigkeit, die jeden Quadratzentimeter des Hauses durchdrang wie einen gewaltigen schmuddeligen Schwamm, ließ mannsgroße Vorhänge aus Spinnweben wie nasse Lappen von Decken und Balken hängen. Den staubigen Geruch nach Alter und Verfall glaubte sie selbst heute noch in der Nase zu haben.

Aber sie hatten es geschafft. Der ersten Enttäuschung waren - zumindest bei ihr - Trotz und kurz darauf ein fast übermächtiges Jetzt-erst-recht-Gefülhl gefolgt. Sie hatten gearbeitet, wie die Wilden gearbeitet: Fußböden und Decken herausgerissen, Wände verputzt und gekalkt, Fenster und Türen gestrichen, Scheiben ausgewechselt und Stromkabel verlegt. Sie hatten Unmengen von Geld und noch mehr Energie in dieses Haus gesteckt. Irgendwann innerhalb dieser ersten vierzehn Tage hatte sie das Gefühl gehabt, daß Stefan und sie sich zu verwandeln begannen, in kalkweiße Gespenster mit entzündeten roten Augen, die nach Farbe rochen, Staub atmeten und sich nur noch mit schnellen, heftigen Gesten bewegten und ständig gereizt waren, weil sie kaum mehr als drei Stunden Schlaf pro Nacht bekamen.

Aber dieses Haus war kein Haus, sondern ein Moloch, ein großer, schweigender Moloch, der ihren Anstrengungen Hohn sprach und Arbeit und Material und Geld und Schweiß schluckte, ohne mehr als nur winzige Spuren davon zurückzulassen. Selbst jetzt noch wirkte es mehr wie eine Ruine als ein von Menschen bewohntes Heim. Ganz objektiv gesehen war es das wohl auch, trotz allem. Selbst in diesem Teil des Hauptgebäudes, auf den sie ihre Anstrengungen in den letzten sechs Monaten konzentriert hatten, waren die Spuren des Zerfalls unübersehbar. Der Putz war an vielen Stellen gerissen oder ganz von der Wand gefallen, so daß die alten, schwarz gebrannten Steine der Grundmauern sichtbar geworden waren. Zwischen den ausgetretenen Fußbodenbrettern sah die Strohfüllung der darunterliegenden Zwischendecke hervor, und die Türen hingen auf gequollen und verzogen in den Angeln. Mit Ausnahme der Schlafzimmertür gab es im ganzen Haus keine einzige, die nicht erbärmlich quietschte, wenn man sie bewegte. Die Leute, die den Hof vor ihnen bewirtschaftet hatten, schienen nicht viel für den Erhalt der Gebäude getan zu haben. Sie hatten die allernotwendigsten Reparaturen ausführen lassen, Strom, fließendes Wasser und ein paar Tiere angeschafft - und das Gut nicht einmal ein Jahr später wieder verkauft. Die wenigen Spuren, die sie vielleicht hinterlassen haben mochten, hatte die Zeit ausgelöscht.