Sie ging in die Küche hinunter und stellte den Wasserkessel auf den modernen Mikrowellenherd, der zwischen dem uralten Kachelofen und der wuchtigen Porzellanspülschüssel vollkommen deplaciert und verloren wirkte. Dann zündete sie sich ihre erste Morgenzigarette an, schlenderte zum Tisch und ließ sich - immer noch in Gedanken versunken - auf den dreibeinigen Schemel am Fenster nieder. Sie fröstelte. Es war kühl in der Küche. In den Ecken nistete noch Feuchtigkeit, und die Sonne hatte noch nicht die Kraft, die Kälte der Nacht vollends zu vertreiben. Sie nahm einen tiefen Zug aus ihrer Zigarette, legte den Kopf in den Nacken und setzte sich so, daß sie die durch das schmale Fenster hereinfallenden Sonnenstrahlen auf dem Gesicht spüren konnte. Ja - für einen Fremden mußte es schwer sein, mit den Menschen hier in Kontakt zu kommen. Sie und die Einsamkeit waren die beiden größten Hindernisse, die es zu überwinden galt. Der nächste Ort war gute fünf Kilometer entfernt, und dazwischen gab es nichts außer Seen und Wald und Wiesen und Mooren und ein paar kleineren Höfen.
In den ersten Wochen waren sie viel unterwegs gewesen und hatten alle Nachbarn besucht und sich vorgestellt. Aber sie hatten rasch herausgefunden, daß die Menschen hier kaum Wert auf ein freundschaftliches oder auch nur gutnachbarliches Verhältnis zu den neuen Besitzern von Eversmoor legten. Sie waren nicht feindlich, nicht einmal abweisend, aber ihre ganze Art war kühl, von einem über unzählige Generationen weiter vererbten Mißtrauen jeglichem Fremden gegenüber bestimmt. Es gab eine unsichtbare Barriere zwischen ihnen und den Menschen hier. Sie waren als Fremde gekommen, und sie würden noch sehr lange Fremde bleiben.
Stefan und ihr machte dieses Verhalten nicht allzu viel aus - schließlich waren sie eigens hier herausgezogen, um allein zu sein. Sie hatten Zeit, Monate, Jahre, wenn es sein mußte, und irgendwann einmal würde der Bann brechen. Irgendwann einmal würde es ihnen gelingen, die Kluft zu überbrücken, die sie von den Menschen hier trennte, und sie würden neue Bekannte und vielleicht sogar Freunde finden. Eine Aufgabe, die viel Geduld erforderte, aber sie waren beide bereit, diese Geduld aufzubringen. Es mochte Menschen geben, denen die Isolation hier draußen unerträglich war, die letztlich daran verzweifelten. Vielleicht waren die Vorbesitzer des Hofes solche Menschen gewesen.
Der Wasserkessel erwachte pfeifend zum Leben, und auf der Treppe wurden Stefans Schritte laut.
Sie sah auf, zerdrückte ihre Zigarette im Aschenbecher und ging zum Herd, um den Kessel herunter zunehmen. Sie bückte sich, nahm zwei Tassen und das Glas mit Kaffeepulver aus dem Schrank und suchte nach einem Löffel.
Stefan erschien unter der Tür, ungewaschen, mit einer verstrubbelten Igelfrisur und gespieltem Zorn auf den Zügen. »Was erdreistest du dich eigentlich, Weib«, sagte er theatralisch, »deinen Ernährer auf so unverschämte Weise um seinen wohlverdienten Schlaf zu bringen? Du weißt, was geschieht, wenn man mich reizt!« Er rollte mit den Augen, ließ den Unterkiefer ein wenig herunter hängen und hob die Hände, um ein Frankenstein-Monster zu imitieren.
»Setz dich hin und trink deinen Kaffee«, sagte Liz spöttisch. »Ernährer!« Sie balancierte mit einem Tablett voller Tassen und Teller zum Tisch und setzte es klirrend ab.
Stefan betrachtete stirnrunzelnd das Sammelsurium von Geschirr. »Erwartest du eine Kompanie Soldaten zum Frühstück?«
»Nein. Ich habe nur die kläglichen Überreste unseres Geschirrs zusammengesucht. Wenn du dich endlich dazu aufraffen könntest, den Schrank wieder dahin zuhängen, wo er hingehört...« Sie ließ das Ende des Satzes offen und deutete anklagend auf den Schrank, der immer noch auf dem Fußboden stand und darauf wartete, wieder an seinen angestammten Platz zurück befördert zu werden. Stefan hatte vor vier Wochen damit begonnen, die Küche neu zu kalken und zu streichen. Seitdem standen die diversen Möbelstücke, die zu schwer waren, als daß Liz' sie allein bewältigen konnte, in chaotischer Unordnung auf dem Boden.
Stefan zog den Kopf zwischen die Schultern und tauchte den Löffel in seine Tasse. »Heute nachmittag...«, begann er.
»Heute nachmittag fahren wir in die Stadt«, unterbrach ihn Liz bestimmt. »Du hast es versprochen, vergiß das nicht. Ich muß unbedingt einkaufen. Wir haben kaum noch etwas im Haus.«
Stefan strahlte. »Siehst du! Wenn ich schon einmal etwas tun will, hinderst du mich daran.«
Liz verzichtete vorsichtshalber auf eine Antwort. Sie hatte sich - gezwungenermaßen - mit Stefans seltsamer Art zuarbeiten abgefunden. Was nicht hieß, daß sie alles hin nahm. Sie wußte, daß Stefan alles, was er tat, gut tat, aber er war der chaotischste Mensch, den sie jemals kennengelernt hatte. Es konnte passieren, daß er fünf Dinge gleichzeitig anfing und dann mittendrin aufhörte, um sich einer sechsten Aufgabe zuzuwenden, die er vielleicht auch wieder abbrach und nach Tagen, Wochen oder gar Monaten zu Ende brachte. Oder auch nie. Das schlug sich nicht nur in der Hausarbeit nieder. Bei seiner Schriftstellerei war es dasselbe. Manchmal hämmerte er wochenlang auf seiner Schreibmaschine herum, ohne einen vernünftigen Satz zustande zu bringen, und dann schrieb er in zwei Monaten einen Roman, der seinen Namen unter die ersten zehn auf der Bestseller liste katapultierte. Sie führten seit dem ersten Tag einen zähen, listenreichen Kleinkrieg gegeneinander, in dem einmal er, einmal sie im Vorteil war, ein Grabenkrieg, in dem er seine angeborene Ruhe und seine schon fast ans Phlegmatische grenzende Gelassenheit gegen ihre unruhige Energie und ihre plötzlichen, schnell verrauchten Wutausbrüche ins Feld führte. Wirklich ändern würde sie ihn nie, und im Grunde wollte sie das auch gar nicht. Eigentlich mochte sie ihn so, wie er war. Meistens, jedenfalls.
»Ich sehe nicht ein«, spann Stefan den Faden nach einer Weile fort, »warum du dein Geschirr nicht genauso gut in einen Schrank stellen kannst, der auf dem Boden...« Erbrach ab, als er ihren Blick spürte, hüstelte gekünstelt und wechselte dann abrupt das Thema. »Wieso bist du eigentlich so früh auf?«
Liz zuckte unmerklich zusammen. Seine Worte weckten wieder die Erinnerung an diesen seltsamen, unheimlichen Schrei, den sie im Halbschlaf gehört hatte - oder zu hören geglaubt hatte, und um dessentwillen sie schließlich aufgestanden war. Sie versuchte erneut, ihn irgendwo einzuordnen, zu klassifizieren und in eine Schublade zu stecken, um ihm auf diese Weise etwas von seiner Bedrohlichkeit zu nehmen, aber es gelang ihr jetzt ebenso wenig wie vorhin. Schließlich zuckte sie mit den Achseln und trank einen Schluck Kaffee, ehe sie antwortete. »Ich dachte, ich hätte ein Geräusch gehört«, sagte sie ausweichend.
»Du dachtest?«
Sie atmete scharf ein. »Gut, ich habe etwas gehört«, sagte sie unwirsch. »Ein Geräusch.«
»Was für ein Geräusch?«
»Keine Ahnung. Ein ...« Sie brach ab, starrte ihr Spiegelbild in der Kaffeetasse an und suchte nach Worten. Obwohl die Erinnerung an jenen seltsamen, fremdartigen Laut noch deutlich in ihr war, fiel es ihr schwer, sie in Worte zu kleiden. Es hatte irgendwie fremd geklungen, ja, aber es war ein Laut, der sich weit über die Grenzen des Hörbaren hinaus erstreckte und irgend etwas in ihrer Seele zum Schwingen gebracht hatte. Vielleicht nicht einmal ein Geräusch im gewohnten Sinne, sondern ein tiefes, vibrierendes Seufzen, eine Art Klage laut der Schöpfung, angst einflößend und gleichzeitig selber voller Not und Pein.