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Und dann? wisperte eine dünne böse Stimme hinter ihrer Stirn. Was wirst du tun, wenn sie sich ganz normal meldet, etwas verschlafen und ziemlich verstört klingt und dich fragt, warum, zum Teufel, du sie mitten in der Nacht anrufst? Wenn sie sich an nichts erinnert, weil sie nämlich gar nicht angerufen hat?

Sie verscheuchte den Gedanken, tippte die beiden letzten Zahlen ein und wartete auf das Freizeichen.

Es kam nicht.

Eine geschlagene Minute verging, bis ihr bewußt wurde, daß sie weder ein Freizeichen noch das Tuut-tuut des Besetztzeichens hörte, sondern gar nichts.

Die Leitung war tot.

Ihre Hände begannen wieder zu zittern, und sie spürte, wie schon wieder Hysterie in ihr emporstieg. Mit aller Gewalt zwang sie sich zur Ruhe. Es konnte ein Dutzend normaler Erklärungen geben - allen voran die, daß sie sich schlicht und einfach verwählt hatte.

Mit zitternden Fingern hängte sie ein, nahm den Hörer wieder in die Hand und tippte die Nummer erneut ein, sehr langsam und bedächtig, wobei sie jede einzelne Ziffer leise vor sich hin sagte, ehe sie die Taste drückte.

Das Ergebnis war das gleiche.

Nichts.

Nichts als eine mörderische Stille.

Fast.

Es verging eine Weile, bis sie spürte, daß die Leitung nicht vollkommen still war. Da war ein Knistern.

Ein kaum hörbares Knacken.

Elektrostatische Störungen.

Oder die Laute von großen, weichen Pfoten, die auf tannennadel- und laubbedecktem Waldboden heran schlichen.

»Ruhig«, flüsterte Liz. Ihr Gesicht und ihre Hände waren feucht vor Schweiß. Sie hörte ihr Herz schlagen. »Ganz ruhig. Verlier ... jetzt... nicht... den ... Verstand.« Es half.

Sie hatte es selbst nicht geglaubt, aber es half. Sie beruhigte sich, wenn auch nur ein wenig, aber immerhin weit genug, um ihre Gedanken im Zaum zu halten. Es gab noch genug andere Erklärungen, ehe sie zu Geistern und Gespenstern greifen mußte - zum Beispiel die, daß das Telefon gestört war. Das wäre auch eine Erklärung für das so abrupt unterbrochene Gespräch gewesen.

Natürlich! Warum war sie nicht gleich auf das Nächstliegende gekommen! Liz lächelte nervös, stellte das Telefon zur Seite und angelte nach Stefans Adreßbuch, das zusammen mit dem Apparat zu Boden gefallen war. Hastig suchte sie Ohlsbergs Nummer, tippte sie ein und wartete, bis ihr ein scharfes Klick verriet, daß am anderen Ende abgenommen wurde. Mit einem schadenfrohen Grinsen drückte sie den Daumen auf die Gabel, zählte bis zehn und ließ sie wieder herausschnappen. Gut - ihr Telefon war in Ordnung, aber was besagte das schon? Der nächste Schritt. Mal sehen, ob sie den Gespenstern aus dem See nicht mit ein bißchen Logik beikommen konnte.

Sie wählte die Nummer der Reisezugauskunft am Hamburger Hauptbahnhof, bekam nach wenigen Augenblicken eine Verbindung und entschuldigte sich dafür, sich verwählt zu haben. Auch das Netz nach auswärts war also okay. Das DING hatte also die Leitung nicht durchgebissen. Blieb noch die Möglichkeit, daß nur ein Teil des Netzes zusammengebrochen war, so daß das Haus - oder das ganze Viertel indem Gabi und ihre hysterische Freundin wohnten, nicht zu erreichen war. Nicht besonders wahrscheinlich, aber noch immer ungefähr zehn tausendmal wahrscheinlicher als telefonleitungskappende Sumpf ungeheuer.

Sie stand auf, ging wieder zur Bar und goß sich einen Sherry ein. Das erste Glas leerte sie sofort, mit dem zweiten ging sie zur Couch zurück, trank es dort mit einem Zug aus und holte sich ein drittes. Sie war sich der Tatsache bewußt, daß sie auf diese Weise sehr schnell betrunken sein würde, aber vielleicht war das nicht einmal das Schlechteste, was ihr passieren konnte.

Nur noch drei Tage...

Was, zum Teufel, hatte sie gemeint?

Obwohl sie es nicht wollte, ja, sich sogar dagegen zu wehren versuchte, kehrten die Erinnerungen an die verunglückte Seance in Hamburg zurück. Ganz offensichtlich hatte sich Stefanie weiter damit beschäftigt - natürlich, was hatte sie anderes erwartet? -, und ebenso offensichtlich war sie auf irgend etwas gestoßen. Etwas, das sie - ob nun eingebildet oder nicht - so erschreckt hatte, daß sie mitten in der Nacht hier angerufen hatte, um sie zu warnen.

Wovor?

Sie leerte ihr Glas, ging zur Bar, um es wieder zu füllen (sie war jetzt fest entschlossen, sich zu betrinken, um wenigstens einschlafen zu können), und ließ währenddessen noch einmal jede Einzelheit dieses schrecklichen Abends vor ihrem inneren Auge Revue passieren. Irgend etwas war geschehen, was das Mädchen zutiefst erschreckt hatte, mehr als sie selbst, obwohl sie doch eigentlich die Betroffene war, denn sie hatte das Erlebnis ja bereits vergessen - oder verdrängt? Aber was? Was? Es hatte nichts mit dem wandernden Glas zu tun, jedenfalls nicht unmittelbar, das wußte sie. Es war etwas anderes, etwas, das sie vorher getan oder gesagt hatte, das... Rum hold.

Plötzlich war Liz sicher, daß es das war. Stefanies Interesse war erwacht, als sie von Rum hold gehört hatte, jener untergegangenen Stadt, auf deren Ruinen Schwarzenmoor und ihr eigenes Haus angeblich erbaut worden waren. Liz schauderte. Macht es Ihnen nichts aus, auf einem Friedhof zu leben? Das - so ungefähr wenigstens - waren Stefanies Worte gewesen. Sie hatte sie nicht ernst genommen, aber sie erinnerte sich jetzt, daß die Bemerkung sie doch mit einem spürbaren Schaudern erfüllt hatte. Sonderbar, daß sie das alles schon fast vergessen gehabt hatte, obwohl es doch gerade erst zwei Tage her war. Es mußte wohl doch so sein, daß etwas in ihr die ganze Szene verdrängt hatte. Sie leerte auch ihr viertes Glas, füllte es erneut und spürte, daß der Alkohol bereits zu wirken begann, als sie sich umdrehte und vorsichtig damit zum Tisch zurückbalancierte. Aber sie setzte sich nicht, sondern trat nach kurzem Zögern zum Bücherregal, ließ den Finger unschlüssig über die Rücken der sorgsam aufgereihten Bände gleiten und zog schließlich einen großformatigen, in steinhart gewordenes Schweinsleder gebundenen Band hervor, einen historischen Atlas, den Stefan irgendwann einmal auf einer Auktion erstanden hatte. Behutsam trug sie ihn zum Tisch zurück, breitete ihn aus und trank einen weiteren Schluck Sherry, ehe sie zu blättern begann.

Sie fand sehr schnell, wonach sie gesucht hatte, nämlich eine Karte der Nordseeküste, wie sie vor hundert fünfzig Jahren gewesen war. Aber Rum hold war nicht darauf. Die Küste erschien ihr unverändert - sie fand Hamburg und Bremen und ein Dutzend anderer Städte. Natürlich gab es ein paar Unterschiede - so fand sie zum Beispiel weder Schwarzenmoor noch die Straße, die hierher führte, obschon beides eindeutig älter als hundert fünfzig Jahre war - aber im großen und ganzen war es eher enttäuschend. Die große Mandränke. Nun, dachte sie spöttisch - entweder sie lag noch sehr viel länger zurück, als sie angenommen hatte, oder sie war nicht ganz so groß gewesen, wie Stefanie und Gabi sie hatten glauben machen wollen.

Mit einem enttäuschten Seufzen griff sie nach ihrem Glas.

Es entschlüpfte ihrer Hand.

Liz war schlagartig wieder hellwach. Der kleine Schwips, den sie sich angetrunken hatte, war wie weggeblasen. Sie konnte beinahe körperlich spüren, wie das Adrenalin in ihren Kreislauf schoß.

Sie war vollkommen sicher: Sie hatte das Glas nicht angestoßen. Es war kein Ungeschick gewesen, kein bloßes Danebengreifen.

Das Glas war zwischen ihren Fingern hindurch geschlüpft, wie ein lebendes Wesen, das vor ihrer Berührung floh!

Vollkommen erstarrt saß sie da, die Hand noch immer wie in einer grotesken Pantomime ausgestreckt, aber reglos, ihre Finger zitterten nicht ein bißchen, obwohl sie vor Angst und Entsetzen am ganzen Körper bebte.

Dies verdammte Glas war einfach vor ihrer Berührung zurückgewichen! Liz nahm all ihren Mut zusammen, beugte sich vor und griff erneut nach dem Sherryglas.