Es machte einen eleganten Bogen nach rechts, stieß gegen den aufgeklappten Atlas und kam zitternd zur Ruhe. Es bewegte sich von selbst, ohne ihr Zutun, wie... in jener Nacht in Hamburg.
Liz schrie auf, warf sich vor und griff mit beiden Händen nach dem Glas. Es entschlüpfte ihren Fingern, wich nach rechts aus, wobei es eine unregelmäßige rote Spur aus Sherry wie Blut hinter sich herzog, schlug einen Haken in die entgegengesetzte Richtung, als Liz nach griff, drehte eine Pirouette, hob sich für einen kurzen Moment zentimeterhoch in die Luft und zerbarst, wie von einer unsichtbaren Faust getroffen. Blutroter Sherry spritzte auf den Tisch, besudelte das Buch und fiel in breiten Strömen auf den Teppich, wo er sich mit Liz' echten Blutflecken vermengte. Im gleichen Moment flog die Tür auf, und Stefan betrat das Zimmer. Er sah verschlafen und übernächtigt aus, aber auch sehr wütend, und er brauchte nicht einmal eine Sekunde, um die ganze Situation zu erfassen und völlig falsch zu deuten. »Was, zum Teufel...«, begann er, brach mit einem hörbaren Schnauben ab und stapfte drei, vier Schritte auf sie zu, ehe er wieder stehen blieb. »... geht hier vor?« führte er seinen begonnenen Satz zu Ende.
Liz' Antwort bestand, nur aus einem trockenen, fast krampfhaften Schluchzen. Sie war auf die Knie herabgefallen, als sie nach dem Glas gesprungen war, und so saß sie noch da, vollkommen außerstande, irgend etwas anderes zu tun als zu schluchzen und seinen Namen zu stammeln.
»Was das bedeutet, will ich wissen!« fauchte er, vollkommen ohne jedes Mitgefühl oder irgendeine andere Regung als Zorn. »Was treibst du hier, mitten in der Nacht? Spielst du Hausverwüstung?« Er machte eine ärgerliche Geste auf den zerschmetterten Telefontisch, trat einen weiteren Schritt vor und erbleichte sichtbar, als sein Blick auf das Buch und die roten Sherryflecken darauf fiel.
»O verdammt! Jetzt sieh dir nur an, was du getan hast! Hast du überhaupt eine Ahnung, was dieses Buch kostet?« Mit einer wütenden Bewegung beugte er sich vor, riß den Atlas an sich und wischte die Sherryflecken mit dem Ärmel seiner Pyjamajacke fort. »Kannst du denn nicht aufpassen! Du...«
»Stefan«, wimmerte Liz. »Hilf mir. Bitte... ich ...«
In Stefans Gesicht ging eine spürbare Veränderung vor sich. Einen Moment lang blickte er noch voller kaum verhohlenem Zorn auf sie herab, aber dann mischte sich Betroffenheit in seine Wut; er klappte das Buch zu, warf es achtlos auf die Couch und beugte sich hinab, um Liz auf die Beine zu helfen.
»Großer Gott, was ist denn passiert?« fragte er erschrocken.
Liz wollte antworten, aber sie konnte es nicht. Ein mühsames, krampfartiges Schluchzen entrang sich ihrer Kehle.
Mit aller Kraft preßte sie sich an ihn, klammerte die Hände um seinen Hals und ließ erst los, als er ihren Griff mit sanfter Gewalt sprengte und sie ein Stück weit von sich schob, um ihr ins Gesicht blicken zu können.
»Was war denn los?« fragte er noch einmal, aber jetzt sehr viel sanfter, wieder mit seiner normalen Stimme, wieder der Stefan, den sie kannte, der sie vor all dem Grauenhaften und Entsetzlichen beschützen würde.
»Ich... das Telefon«, stammelte sie. »Das Telefon hat geklingelt und ... und ...« Wieder kam sie ins Stottern, aber jetzt wartete Stefan geduldig, bis sie sich weit genug gefangen hatte, um von sich aus weiter zusprechen.
»Es war Stefanie«, begann sie. »Dieses Mädchen aus...«
»Aus Hamburg?« fiel ihr Stefan ins Wort. »Gabis verrückte Freundin? Was, um Gottes willen, wollte sie mitten in der Nacht?«
Liz zog schniefend die Nase hoch, löste sich vollends aus seinem Griff und fuhr sich ein paar mal mit der Hand durch das Gesicht, ehe sie sich wieder weit genug unter Kontrolle hatte, um weiter reden zu können. Stefan runzelte die Stirn, als er ihre verbundene Hand sah, sagte aber kein Wort, sondern ging schweigend zur Bar, um sich einen Martini zu mixen, während sie erzählte. Als sie fertig war - es dauerte lange, aber er unterbrach sie kein einziges Mal, auch nicht, als sie ein paar mal erneut die Beherrschung zu verlieren drohte -, nippte er ruhig an seinem Glas, hielt ihr einen zweiten Drink hin und zuckte nur die Achseln, als sie ablehnte.
»Das ist... wirklich eine komische Geschichte«, sagte er.
»Komisch?« Liz kreischte fast. »Ich finde sie nicht...«
»Nicht komisch, okay, du hast recht«, sagte Stefan hastig. »Das falsche Wort, ich gebe es zu.« Er blickte auf das herab, was vom Telefontisch übriggeblieben war. »Du bist sicher, daß sich bei Gabi niemand gemeldet hat?«
»Natürlich.«
»Vielleicht ist der Anschluß einfach gestört«, sagte er nachdenklich. »Ich werde morgen jemanden in Hamburg anrufen und darum bitten, daß er einfach mal bei Gabi vorbeischaut. Vielleicht findet sich eine ganz normale Erklärung.«
»Normal?« keuchte Liz. »Und... und das Glas?«
Stefan überlegte einen Moment. »Dasselbe Phänomen wie vor drei Tagen«, sagte er schließlich. »Sonderbar, aber noch kein Grund, die Fassung zu verlieren. Wer weiß«, fügte er mit einem etwas verunglückten Lächeln hinzu, »vielleicht hat diese Stefanie ja recht, und du bist wirklich ein begnadetes Medium. Willst du nicht doch?« Er hielt ihr sein Glas hin, aber Liz lehnte erneut ab.
Stefan seufzte. »Na gut. Heute nacht klären wir das sowieso nicht mehr, nicht wahr? Was hältst du davon, wenn wir wieder ins Bett gehen. Diese Schweinerei hier räumen wir morgen früh auf. Und wenn du unbedingt willst«, fügte er hinzu, wobei Liz spürte, daß er in Wahrheit lieber das genaue Gegenteil sagen wollte, »dann fahren wir morgen noch einmal nach Hamburg und reden mit dieser Stefanie. Und jetzt komm ins Bett. Es ist spät.«
Liz starrte ihn an. Ins Bett? Wie konnte er jetzt an schlafen denken?
Aber er konnte.
Und vermutlich, dachte sie betrübt, hatte er sogar recht.
Sie würden nichts mehr klären, heute nacht. Und auch morgen nicht, in Hamburg. Es war noch Zeit.
Drei Tage.
31.
Warum kam das Böse immer nachts?
In fast allen Geschichten, Filmen, Büchern, die sie gehört und gesehen und gelesen hatte, war das Unheimliche, Fremde und Bedrohliche stets nach Einbruch der Dunkelheit gekommen. Sie hatte sich nie wirklich Gedanken darüber gemacht - warum sollte sie auch -, so wie sie niemals auf die Idee gekommen war, daß es einmal etwas geben könnte, was in ihr geregeltes, behütetes Leben einbrach. Das Faszinierende an Schauergeschichten war, daß man sich gruseln konnte, ohne wirklich in Gefahr zu sein. Man konnte sich einen Film anschauen und den größten Schrecken seines Lebens erleiden, aber hinterher stand man auf und ging sicher nach Hause. Nicht hier. Sie war mitten drin in dieser Horrorgeschichte, aber sie würde nicht weggehen können. Sie mußte es durchstehen. Aber sie war sich mit einem Mal gar nicht mehr so sicher, daß sie es auch konnte.
Liz fand keinen Schlaf mehr in dieser Nacht, trotz des Alkohols und der beiden Tabletten, die sie auf Stefans Drängen hin genommen hatte, ehe sie wieder nach oben gegangen waren. Stefan hatte sich hingelegt und nach Augenblicken wieder zu schnarchen begonnen, aber sie hatte stundenlang wach gelegen. Ein paar mal war sie kurz eingeschlafen, aber nur um bereits nach wenigen Minuten schweißgebadet und mit klopfendem Herzen wieder aufzuwachen, die dumpfe Erinnerung an einen Alptraum im Schädel und einen Geschmack wie nach Blut und Erbrochenem im Mund. Es war bereits schlimmer, als sie zuzugeben bereit war. Sie hatte schon Angst davor, einzuschlafen.
Jetzt war es vier Uhr. Bald würde es hell werden. Die - wievielte? Die - dritte Nacht ohne Schlaf. Der Moment, an dem sie einfach zusammenbrechen würde, war nicht mehr weit. Und was immer dann geschah, wenn sie diesem schauderhaften Nachtmahr schutzlos ausgeliefert war - es würde entsetzlich sein.