Sie schlug die dünne Bettdecke zurück, blieb noch einen Moment reglos liegen und stand dann auf. Es war kalt im Zimmer. Auf unangenehme Weise kalt; nicht erfrischend, sondern einfach nur eisig. Selbst für diese Uhrzeit ungewöhnlich, denn es war Juni.
Stefan bewegte sich unruhig, aber er wachte nicht auf. Und aus irgendeinem Grund hatte sie fast Angst davor, daßer erwachen konnte, auch wenn sie sich gleichzeitig davor fürchtete, allein zu sein. Sie betrachtete ihren schlafenden Mann, aber sie fühlte kaum etwas dabei. Die Zärtlichkeit, die sie immer bei seinem Anblick verspürt hatte, dieses sanfte, unaufdringliche Gefühl der Liebe, war verflogen. Fort, als hätte es sie niemals gegeben. So, wie sich vieles geändert hatte, seit... ja, seit was eigentlich geschehen war?
Sie streifte ihren Morgenrock über, griff nach den Zigaretten und ließ ihr Feuerzeug aufschnappen. Die kleine, gelbe Flamme zauberte eine verschwommene Kugel aus gelbem Licht in die Luft und warf schwarze, grotesk verzerrte Schatten gegen die Wände. Graue Schatten mit peitschenden Tentakelarmen, die Schatten von Dingen mit zu vielen Fingern und Gorgonenhäuptern. Sie löschte die Flamme, und die Vision verschwand.
Zumindest hatte die durch wachte Nacht ein gutes: Sie hatte Zeit gefunden, zu denken. Und ein bißchen - nicht völlig, nicht einmal annähernd - hatte sie zu ihrer gewohnten, überlegenen Art des Nachdenkens zurückgefunden.
Liz hatte nie etwas um übernatürliche Dinge gegeben, und sie mochte auch diese Pseudo-Psychologie nicht, die besonders bei ihrer Generation so beliebt war. Nein - sie hatte immer von sich behauptet, ein Mensch zu sein, der mit beiden Beinen fest auf dem Boden der Realität stand. Manchmal, wie Stefan behauptete, schon zu fest. Und vielleicht, überlegte sie, war gerade das der Grund, aus dem sie so überspitzt auf die Ereignisse der letzten Tage reagiert hatte. Es war nichts, was sie auf Anhieb erklären konnte; weder rational noch gefühlsmäßig. Es waren vielmehr Dinge gewesen, die ihr streng logisch aufgebautes Weltbild erschüttert hatten. Und wahrscheinlich, diagnostizierte sie, neigte sie deshalb dazu, mehr hineinzugeheimnissen als nötig. Es lag in der Natur des Menschen, vor allem Fremden und Unbekannten zu erschrecken. Was immer draußen war - und es war dort! - es würde sich eine logische Erklärung finden.
Es mußte.
Es mußte einfach!
Sie drückte die kaum angerauchte Zigarette in den Aschenbecher, stand auf und ging langsam zum Fenster.
Sie war nicht einmal erstaunt, als Carry wieder zu bellen begann, wieder auf diese entsetzliche, hysterische Art, in der nichts Aggressives lag, nichts von all der ungeheuren Kraft und Wildheit dieses riesigen Hundes, sondern pures Entsetzen! Sie hatte gewußt, daß es wieder dort draußen auf sie wartete. Aber sie war entschlossen, sich der Bedrohung zustellen, das zu tun, was sie ihr ganzes Leben lang in Situationen wie dieser getan hatte: zu kämpfen. Sie hatte es zweimal mit Erfolg getan, und sie würde es auch ein drittes und ein viertes und, wenn es sein mußte, ein zwanzigstes Mal tun.
Langsam, zögernd, öffnete sie das Fenster. Silbernes Mondlicht drang herein, veränderte die Schatten des nächtlichen Zimmers und erweckte die Dunkelheit zu flüsterndem Leben.
Und obwohl sie wußte, was sie erwartete, traf sie der Anblick wie ein Hammerschlag. Der Hof lag unter ihr; ein dunkles, asymmetrisches Rechteck voll schmieriger Schwärze, durchsetzt mit Tümpeln aus kaltem, abweisendem Licht. Dahinter der Wald, eine schweigende Wand steinerner Riesen. Flach und tiefen los, keine Wand, sondern einfach eine willkürlich gezogene Trennlinie, hinter der die Welt aufhörte, als hätte - wer immer sie geschaffen hatte - einfach vergessen, sie an dieser Stelle weiterzuformen. Vielleicht war es so.
Sie zwang sich hinunter zusehen, der Gefahr zu begegnen. Sie würde ihr die Bedrohung nehmen. Sie würde sich nicht vom Schock gefangennehmen lassen wie beim ersten Mal. Es war nicht eigentlich die Erscheinung gewesen, sondern mehr das Unerwartete an ihr, das sie getroffen hatte.
Aber Liz begann bereits zu spüren, wie wenig ihr logisch trainiertes Denken gegen das schweigende Grauen dort draußen half. Sie zwang sich, den Blick weiter über den Hof wandern zu lassen, über die Scheune, den buckeligen Umriß des Misthaufens, den Zaun, die Ruine, den...
... Schatten ...
... den Schatten des Hauses. Unbeschädigt.
Klein. Massig und drohend.
Es ist ein Phänomen, versuchte sie sich einzureden. Eine Laune der Natur, die zu erklären ist... irgendwie.
Minutenlang - stundenlang, wie es ihr vor kam - starrte sie den verzerrten Schatten des Gesindehauses an. Eine kaum merkliche Wellenbewegung schien über das Bild zu laufen, als betrachte sie es durch schnell fließendes, klares Wasser, in dem nur hier und da blasse graue Schlieren waren.
Ihr Blick saugte sich an dem dunklen Rechteck dort unten fest. Es war Bewegung in dem Bild. Bewegung, die kein Recht hatte, dort zu sein.
In ihrem Gehirn schien irgend etwas auszusetzen. Ihre Gedanken begannen zu schwingen, wie eine Bogensaite, die schnell und hart bis zum Zerreißen angespannt wird. Ein heller Umriß erschien im Schatten des Hauses. Die... Tür. Der dreieckige Lichtkeil, der aus dem Inneren des Phantomhauses auf den Hof fiel, die... die Gestalt, die darin erschien. Die Gestalt eines Mannes ...
Ein würgender, halb erstickter Laut entrang sich ihrer Kehle und ging in Carrys hysterischem Bellen unter. Der körperlose Schatten dort unten machte einen Schritt, dann noch einen, bis er den hellen Umriß der Tür verließ, mit dem Schatten des Hauses verschmolz und weiterging, weiter und weiter...
Schließlich hatte er den Schatten des Hauses durchquert, wurde wieder sichtbar und stand auf dem Hof, ein körperloser dunkler Fleck ohne Licht und Leben. Sie sah seine Umrisse, jede winzige Kleinigkeit, die kleinen, nervösen Bewegungen seiner Hände, das Rucken, mit dem sein Kopf in den Nacken flog, als würde der vor dreißig Jahren verbrannte Körper, zu dem er gehörte, sie - sie! - ansehen.
Sie stand einfach gelähmt da, unfähig, sich zu rühren, in Bann geschlagen von der unheimlichen Erscheinung, hypnotisiert vom Blick seiner unsichtbaren Augen, die sie zwar nicht sehen, dafür aber um so deutlicher spüren konnte.
Dann, irgendwann nach Sekunden oder Tagen oder Jahrhunderten - es blieb sich gleich, denn ihr Zeitgefühl war ebenso erloschen wie alles andere, und es gab nur noch sie und dieses schreckliche, schwarze Ding dort unten -, bewegte sich der Schatten weiter, wandte sich mit einem lautlosen, unsichtbaren Lachen um und ging weiter auf das Wohnhaus zu.
Sie wollte schreien, aber es ging nicht. Ihre Kehle war zugeschnürt, und in ihrem Inneren begann etwas heranzuwachsen, das jenseits aller Furcht war, das... Der Schatten ging weiter, verschwand im toten Winkel unterhalb des Fensters und näherte sich mit lautlosen Schritten dem Haus. Sie konnte ihn nicht mehr sehen, aber sie spürte, wie er näher kam, näher und näher, auf das Haus zuging, eine unsichtbare Hand ausstreckte...
Irgendwo, tief unter ihr, fiel eine Tür ins Schloß.
Dann kam der Schrei wieder. Er erwachte jenseits des Waldes dort draußen, wehte zu ihr herüber, ein helles, kaum wahrnehmbares Wimmern zuerst, das stärker und stärker wurde, bis das ganze Zimmer ausgefüllt schien, von jener unglaublichen Sinfonie des Grauens, bis die Luft in ihren Lungen, bis jede Faser ihres Körpers in einem ungeheuren, mißtönenden Orkan aus Lärm versank.
Bansheeeeee...........
Sie hörte nicht einmal, wie Stefan leise neben sie trat.
Der Schrei war alles. Er verschluckte Carrys Bellen, durchdrang das Zimmer, ihre Sinne, ihr Ich, reduzierte ihre Persönlichkeit auf ein jämmerliches Nichts. In ihrem Denken war für nichts weiter mehr Raum als für Schmerz, Schmerz, Angst und Verzweiflung. Die Welt um sie herum zerbarst, zersprang zu Millionen und Abermillionen winziger Bruchstücke, aus denen ihr Angst und Panik entgegensprangen.