»Lizl«
Sie hatte Mühe, Stefans Stimme zu erkennen. Plötzlich war sein vertrauter Baß für sie nicht mehr Trost, sondern nur noch eine Folge bedeutungsloser Laute. Das Gefühl der Sicherheit, das sie immer in seinen großen, starken Armen verspürt hatte, war nicht mehr da.
Sie wirbelte herum, schlug in sinnloser Wut mit den Fäusten auf ihn. Sie traf sein Gesicht, seine Brust, wieder sein Gesicht und spürte, wie er ihre Handgelenke packte und festhielt.
»Siehst du es jetzt!« schrie sie. »Siehst du es?«
»Was?«
»Du mußt es sehen!« keuchte sie verzweifelt. »Du mußt!« Sie riß sich los, packte ihn mit der Kraft, die ihr die Verzweiflung verlieh, und stieß ihn wuchtig gegen das Fensterbrett. »Siehst du es jetzt? Siehst du es? Sag, daß du es siehst!
Sag es!!« Er mußte es sehen. Sie war doch nicht verrückt! Er mußte einfach! Nach einer Ewigkeit nickte er.
Aber allein die Art, in der er es tat, war bereits eine Lüge. Sanft, beinahe zärtlich, löste er ihre Hand von seinem Arm und richtete sich auf. »Natürlich sehe ich es«, sagte er. »Natürlich.« Seine Stimme war leise, monoton und ruhig;ausdruckslos. Der besänftigende Tonfall, in dem man mit einem tobsüchtigen Kind sprach - oder mit einer hysterischen Frau.
»Du lügst!« schrie Liz. Sie fuhr zurück, trommelte erneut mit den Fäusten gegen seine Brust und sank schließlich wimmernd zu Boden.
»Bitte«, schluchzte sie. »Bitte, sag, daß du es gesehen hast. Du... du mußt mir glauben. Bitte... sag... sag, daß ich nicht verrückt bin, daß ... bitte ...« Ihre Stimme versagte. Die Worte gingen in einem krampfhaften Schluchzen unter.
»Aber ich habe es doch gesehen, Kleines«, sagte er leise. Er gab sich nicht einmal Mühe, glaubhaft zu klingen. Sie spürte kaum, wie er sie hoch hob und auf das Bett legte. Erging zum Fenster zurück, schloß es und machte dann Licht. Aber der trübe gelbe Schein konnte die dräuenden Schatten nicht vertreiben. Er hielt sie zurück, bremste ihren Vormarsch, aber sie waren noch da, lauernd und bereit.
»Beruhige dich erst einmal«, murmelte Stefan. »Und dann erzählst du mir in aller Ruhe, was passiert ist.«
»Aber du... du hast es gesehen ...«, wimmerte sie. »Du mußt es einfach gesehen haben! Bitte...«
Stefan nickte. In seinen Augen lag ein besorgter Ausdruck, aber es war nicht die Sorge eines Mannes um seine Frau, sondern eher der Blick eines Arztes, der sich einem interessanten - und hoffnungslosen - Fall gegenübersieht.
Nicht der Blick des Mannes, der sie liebte.
»Ich werde Doktor Swenson anrufen«, sagte er.
Liz richtete sich kerzengerade auf. »Nein!«
»Aber...«
»Nicht den Arzt«, flehte sie. »Bitte nicht, Stefan.« Ihre Stimme war plötzlich ganz ruhig.
Er überlegte einen Augenblick, dann nickte er. »Gut. Wenn du nicht willst. Aber du mußt mir versprechen, dich zu beruhigen.«
Schritte.
Auf der Treppe waren Schritte.
Sie schrak zusammen, blickte sekundenlang zur Tür und dann wieder in Stefans Gesicht. Sein Blick war leer.
Er hörte es nicht, dachte sie entsetzt. Er hörte die Schritte nicht! Aber sie waren doch da! Sie hörte sie deutlich, die langsamen, bedächtigen Schritte eines Mannes der aus dem Erdgeschoß die Treppe heraufkam; langsam, aber unerbittlich. Peter oder Andy, dachte sie verzweifelt. Aber gleichzeitig spürte sie, daß das nicht stimmte. Die Schritte waren zu schwer für die eines Mädchens und zu leicht für Peters; zu regelmäßig. Peter humpelte.
Ihr Blick saugte sich an der Tür fest, während die Schritte näher kamen, den Treppenabsatz erreichten, langsam und schwer auf den knarrenden Fußbodenbrettern polterten, näher und näher... Sie wollte es Stefan sagen, aber sie wagte es nicht. Er würde ihr zustimmen und sie für völlig verrückt halten.
Die Schritte erreichten die Tür, verstummten für einen Moment und...
Liz warf sich mit einem verzweifelten Schluchzen an Stefans Brust und klammerte sich fest.
»Beruhige dich, Schatz«, murmelte er. »Es ist nichts, überhaupt nichts.« Er streichelte über ihr Haar, berührte ihre Schulter, ihr Gesicht. Und wieder spürte sie, daß in seiner Berührung kein Trost lag, daß seine Hand mit der gleichen Beiläufigkeit auf ihr ruhte, mit der er einen Stein oder den Kotflügel seines Wagens berührt hätte. Er teilte ihren Schmerz nicht. Er verstand ihn nicht einmal; mehr noch, er versuchte nicht einmal, ihn überhaupt verstehen zu wollen. »Bitte, Stefan ... ich ...«
»Ja?«
Sie stockte.
Sie hörte, wie die Türklinke heruntergedrückt wurde, spürte den kühlen Luftzug, als die Tür auf schwang. Aber sie wagte es nicht, auf zusehen.
»Ich möchte weg«, wimmerte sie. »Weg hier, Stefan.«
»Weg?«
»Weg von hier. Laß uns hier weggehen. Bitte!«
»Jetzt?« Seine Stimme klang beinahe spöttisch. »Es ist vier Uhr früh, Liebling.«
»Ich möchte nach Hamburg. Du ... hast es selbst vorgeschlagen«, stieß sie hervor. »Es war deine Idee. Du hast es selbst gesagt.«
Der Schatten war da! Er war hier, im Zimmer, direkt hinter ihr. Sie spürte ihn, spürte sein Lachen, sein lautloses, höhnisches Lachen...
Stefan nickte. Sein Gesicht blieb unbewegt, aber in Seinen Augenwinkeln glomm plötzlich ein winziges, böses Feuer auf. »Natürlich habe ich es vorgeschlagen. Aber doch nicht mitten in der Nacht.« Er stand auf, löschte das Licht und blieb sekundenlang neben dem Bett stehen. An der gleichen Stelle, an der der Schatten stand... ... gestanden hatte.
Er war verschwunden. Und trotzdem war das Böse noch da, hier im Zimmer, direkt neben ihr.
Nein, dachte sie.
Nicht das! Nicht Stefan! Bitte nicht Stefan!
»Du hast doch selbst gesagt, daß du dich nicht vertreiben lassen willst, oder?« fragte er, während er neben ihr unter die Decke schlüpfte und sich auf die Seite rollte. »Ja, aber...«
»Kein Aber. Wir reden später noch einmal darüber, wenn du dich beruhigt hast.« Seine Stimme klang plötzlich dumpf, als er sich die Decke über den Kopf zog. »Und nun laß mich bitte in Frieden. Ich brauche meine Ruhe, wirklich. Du weißt, daß ich noch zu arbeiten habe. Schlaf jetzt.«
Ein Schlag ins Gesicht hätte sie nicht härter treffen können. Sie rang mühsam nach Worten, stemmte sich auf die Ellbogen hoch und starrte den Umriß neben sich an. Wie konnte er schlafen? Wie konnte er jetzt schlafen?
»Aber... der Hund...« Sie fuhr hoch, packte Stefan an der Schulter und schüttelte ihn mit aller Kraft. »Hör doch !Carry!«
»Was soll damit sein?« murmelte Stefan.
»Er... er bellt. Hör doch, wie er bellt! Er wittert etwas!«
»Ja«, drang Stefans Stimme dumpf unter der Decke hervor. Sie klang - großer Gott, sie klang nicht nur so, es war so! Als wäre er bereits wieder eingeschlafen. »Ein Kaninchen, vermutlich. Oder deine Banshee. Und jetzt laß mich verdammt noch mal endlich schlafen!«
Für den Bruchteil einer Sekunde starrte Liz ihren schlafenden - SCHLAFENDEN! - Mann noch entsetzt an, dann fuhr sie herum und hoch, sprang aus dem Bett und war mit einem Satz wieder beim Fenster.
Alles war unverändert. Der Schatten des Gesindehauses stand da, unverändert, so wie er vor dem Brand vor drei Jahrzehnten ausgesehen haben mußte, und vom Wald her griff Nebel mit dünnen grauen Fingern auf den Hof. Carrys Bellen steigerte sich zu einem irrsinnigen Heulen, und gleichzeitig sprang er auf die Füße und zerrte wie rasend an seiner Kette. Selbst auf die große Entfernung konnte sie das dumpfe, wütende Knurren hören, das sich unter sein Bellen mischte. Der Hund war halb verrückt vor Angst, tobte jetzt wie ein Irrer. Sie verfolgte seine Bewegungen voller Angst und zugleich morbider Faszination; ein kleiner, pelziger Ball, der am Ende seiner Kraft auf und ab hüpfte und den schweigenden Wald und den grotesk verzerrten Schatten dort unten ankläffte.