Выбрать главу

»Ein Schrei, denke ich«, sagte sie schließlich, obwohl sie wußte, wie unzulänglich ihre Erklärung war. Der Laut entstammte nicht der Welt, in der sie lebten, und er war mit Worten aus ihrer Sprache nicht zu beschreiben.

»Ein Schrei?«

Sie nickte erneut. »Ich glaube jedenfalls, daß es ein Schrei war.«

Stefans Interesse war geweckt. Er konnte furchtbar stur sein, wenn ihn etwas interessierte, und es gab im Grunde kaum etwas, was sein Interesse nicht zu wecken vermochte. Es tat ihr schon fast leid, daß sie ihm überhaupt davon erzählt hatte. Gleichzeitig war sie erleichtert, mit jemandem darüber reden zu können. »Was für ein Schrei?« bohrte er weiter.

»Ich weiß es nicht«, entgegnete Liz mit einer deutlichen Spur von Ungeduld in der Stimme. »Vielleicht habe ich es mir auch nur eingebildet. Oder es war irgendein Tier. Ein Vogel oder ein streunender Hund.«

»Es gibt Füchse in den Wäldern«, sagte Stefan plötzlich. »Hast du schon einmal einen Fuchs schreien hören?«

Liz schüttelte stumm den Kopf und beugte sich tiefer über ihre Kaffeetasse. »Sie wimmern wie kleine Kinder«, erklärte Stefan zwischen zwei Schlucken. »Es könnte wirklich ein Fuchs gewesen sein.«

»Möglich. Oder ein Vogel. Ein Käuzchen vielleicht oder eine Eule. Die Wälder hier sind voll davon.«

Stefan schüttelte den Kopf. »Ein Fuchs«, beharrte er. »Ich habe einmal einen jungen Fuchs schreien gehört - ich sage dir, wenn du nicht weißt, was es ist, läuft dir ein kalter Schauer den Rücken herunter.« Er stand auf, tat einen Löffel Kaffeepulver in seine Tasse und schüttete kochendes Wasser darauf.

Liz nickte nur stumm. Sie war froh, daß Stefan eine Erklärung gefunden hatte und nicht weiter bohrte. Auch wenn sie wußte, daß es kein Fuchs gewesen war, auch keine Eule oder irgendein anderes Tier. Obgleich sie auf der einen Seite erleichtert war, es getan zu haben, empfand sie auf der anderen eine unerklärliche Scheu davor, über ihr Erlebnis zureden, ja, selbst darüber nachzudenken. Vielleicht war es ein bloßer Alptraum gewesen, nichts als die letzten pelzigen Fühler des Nachtmahres, die sie ein Stück weit hinüber ins Wachsein begleitet hatten. Aber im Gegensatz zu einem normalen Alptraum verblaßte die Angst nicht mit der Zeit, sondern schien sich im Gegenteil noch zu vertiefen. Dabei konnte sie sich nicht einmal richtig an das Geräusch erinnern. Es hatte vielleicht wie ein Schrei geklungen, aber doch auch wieder anders...

Sie schüttelte die Erinnerung mit einer ärgerlichen Bewegung ab und zündete sich eine zweite Zigarette an.

Der Rauch schmeckte schal und faulig. Sie hustete, rang einen Moment nach Atem und nahm einen zweiten, tiefen Zug, um das brennende Kratzen in ihrer Kehle zu überdecken. Normalerweise drückte sie die Zigarette nach dem ersten Zug wieder aus, wenn sie ihr nicht schmeckte, aber sie wußte, daß sie dann wieder mit Stefan hätte reden müssen, und so rauchte sie weiter, froh, ihre Hände beschäftigt zu wissen und sich hinter einer trügerischen Mauer aus blauem Zigarettenrauch verbergen zu können. Stefan hatte seine zweite Tasse Kaffee geleert und schielte jetzt gierig auf ihre Zigarettenpackung.

Sie nahm das Päckchen mit einer schnellen Bewegung vom Tisch und ließ es in der Tasche verschwinden. »Du weißt, was dir der Arzt geraten hat«, sagte sie tadelnd. »Keine Zigaretten mehr vor dem Frühstück.«

»Aber ich habe doch schon...«

»Zwei Tassen Kaffee getrunken«, nickte Liz. »Ich weiß. Auch schon eine zu viel.«

»Eben! Die muß ich neutralisieren.«

»Mit Nikotin?«

»Selbstverständlich«, sagte er ernsthaft. »Siehst du, Schatz, Koffein wirkt auf das menschliche Nervensystem äußerst anstrengend, während Nikotin eine beruhigende Wirkung hat. Und durch die doppelte Portion Koffein befindet sich mein Nervenkostüm nun in heller Aufregung, sodaß...«

Liz stöhnte ergeben und gab ihm eine Zigarette. Er grinste triumphierend, riß ein Streichholz an und nahm einen tiefen Zug. »Wenn es nach dir und meinem sogenannten Arzt ginge, dann dürfte ich bald überhaupt nichts mehr«, sagte er. »Keine Zigaretten, keinen Kaffee, keinen Alkohol...«

»Keine Frauen«, fügte Liz hinzu. »Jedenfalls keine außer mir.«

»Ich beginne zu begreifen, warum du hier herausziehen wolltest«, grollte Stefan. »Reichlich spät, Liebling. Hier habe ich dich viel besser unter Kontrolle als in der Stadt. Der Kaffee ist rationiert, Zigaretten und Schnaps verwalte ich, und die einzige Frau in weitem Umkreis ...«

»Du bist keine Frau«, fiel ihr Stefan ins Wort. »Du bist ein Monstrum. Glaube bloß nicht, daß ich dir nicht schon längst auf die Schliche gekommen bin. Ich weiß genau, daß du dich mit meinem Arzt verschworen hast. Das einzige, was ich noch darf, ist arbeiten. Und wozu?«

»Um mir ein angenehmes Leben und teure Hobbys finanzieren zu können, wozu denn sonst?« entgegnete Liz ernsthaft.

Stefan grunzte, beugte sich über den Tisch und trank einen großen Schluck aus ihrer Kaffeetasse. Dann ließ er sich zurücksinken, grinste wie ein Schuljunge und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Wann fahren wir?« fragte er, während er einen perfekten Rauchring in die Luft blies. Liz starrte dem Ring neidisch nach und zuckte mit den Achseln. »Nach dem Mittagessen, denke ich.«

»So spät?«

»Ich muß noch die Tiere versorgen«, erklärte sie geduldig. »Dann den Stall ausmisten, im Gemüsegarten Unkraut rupfen - und unser Wohnzimmer sieht aus, als wären Attilas Horden hin durchgezogen. Dreimal hintereinander.« Sie schüttelte den Kopf. »Du wolltest ja unbedingt eine Bäuerin aus mir machen, oder? Außerdem - während ich versuche, den Hof auf Vordermann zu bringen, könntest du ja mal wieder arbeiten, was meinst du?«

Stefan verzog das Gesicht, als hätte sie etwas Unanständiges von ihm verlangt. »Ich habe eine bessere Idee.«

»Ach?«

»Du ziehst dich rasch an und läßt deine zweidreiviertel Hühner auf die Koppel, und wir fahren direkt in die Stadt. Du erledigst am Vormittag deine Einkäufe, und wir gehe nirgendwo gemütlich essen. Und danach machen wir uns einen schönen Tag.«

»Einen schönen Tag?« wiederholte Liz ungläubig. »In Schwarzenmoor?« Stefan nickte. »Du tust diesem malerischen kleinen Dorf und seinen freundlichen Bewohnern unrecht.«

»Und wer erledigt derweil die Arbeit?«

»Deshalb will ich ja so früh los«, entgegnete Stefan. »Erinnerst du dich an Ohlsberg?«

Natürlich erinnerte sie sich an Ohlsberg. Sie hatte ihn einmal gesprochen, und es war praktisch unmöglich, sich danach nicht an ihn zu erinnern.

Ohlsberg war wie dieses Land - alt, breitschultrig und knorrig. Es war unmöglich, sein Alter zu bestimmen. Er mochte fünfzig sein, aber auch siebzig oder hundert oder zweihundert. Natürlich erinnerte sie sich an ihn, aber die einzig wirklich klare Erinnerung war die des Alters. Sie versuchte, sich sein Gesicht vor Augen zu führen, aber es blieb ein verschwommener heller Fleck, voll von Runzeln und dünnen, wie mit einem Skalpell hin eingeschnittenen Falten, der sich jedem Versuch entzog, ihn genauer zu betrachten und mehr als das Vordergründige zu erkennen und das, was zu sehen er erlaubte.

Alt, knorrig und abweisend allem Fremden gegenüber, das war Ohlsberg. Stefan nannte ihn den Dorfschulzen. Natürlich war das nicht sein richtiger Titel - wahrscheinlich nannte er sich Bürgermeister oder weiß-der-Teufel-wie, aber Stefan hatte gemeint, daß Dorfschulze weitaus besser zu ihm paßte, und Liz hatte ihm nach ihrer ersten Begegnung mit Ohlsberg zugestimmt.

»Ich habe gestern nachmittag noch einmal mit ihm telefoniert«, fuhr Stefan nach einer Weile fort, »und ihm unser Leid geklagt. Und ich glaube, er hat einen Weg gefunden, um uns zu helfen.«

»Du meinst...«