Sie überquerte den Hof, ging zur Scheune und schob einen Torflügel weit genug auf, um hindurch schlüpfen zu können. Der Raum war dunkel und leer; der halb auseinandergenommene Traktor, der nun nie wieder (woher wußte sie das?) zusammengesetzt werden sollte, stand da, umgeben von einem Kranz sorgfältig sortierter metallener Eingeweide, daneben der Jaguar, ein Gegensatz, wie er größer kaum vorstellbar war, aber Peter war nicht da. Liz war enttäuscht. Sie hatte inständig gehofft, ihn hier zu treffen, denn alles andere bedeutete, daß er hinter dem Haus war, auf der anderen Seite des Gebäudes, und dort hinzugehen - sich der Ruine auch nur zu nähern - war unmöglich. Nicht jetzt. Vielleicht würde sie nie wieder die Kraft haben, auf die andere Seite des Hauses zu gehen. Auf jeden Fall nicht jetzt.
Als sie die Scheune wieder verlassen wollte, sah sie den Schatten vor dem Wald. Der Schrecken dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde. Wenigstens in dieser Hinsicht arbeiteten ihre Sinne mit fast übernatürlicher Schärfe: sie vermochte sehr wohl zwischen den grauen Schemen des Wahnsinns und der Realität zu unterscheiden. Der Schatten da drüben vor dem Wald war echt, ein richtiger Schatten, den ein richtiger Mensch warf. Ein richtiger Ohlsberg, genauer gesagt. Liz erkannte ihn sofort, aber sie versuchte noch einen Augenblick, ihn wegzuleugnen. Ohlsberg? Hier? Dann begriff sie. Er war zurückgekommen, um mit ihr abzurechnen. Vorhin im Haus, in Stefans Gegenwart, hatte er es nicht gewagt, auch nur ein Wort über Andy und die Starbergs zu verlieren, aber sie hatte sich wieder in ihm getäuscht - er dachte keineswegs daran, auch nur den Bruchteil eines Millimeters zurückzuweichen. Er war weggefahren, gerade so weit, daß Stefan denken mußte, er wäre wirklich fort, aber wahrscheinlich stand sein Wagen nur hinter der nächsten Biegung des Weges, und er hatte dort drüben Position bezogen, um auf sie zu warten. Mistkerl, verdammter!
Einen Moment lang überlegte sie, einfach ins Haus zurückzugehen, Stefan zu rufen und zuzusehen, wie er hinüberstürzte und Ohlsberg auf die Hörner nahm. Aber sie verwarf diesen Gedanken fast ebenso rasch wieder, wie er ihr kam - was würde es schon nutzen? Ohlsberg hatte entschieden: er wollte nicht Stefan, er wollte sie, und nichts auf der Welt würde ihn aufhalten. Sie konnte Stefan nicht ewig wie einen lebenden Schutzschild vor sich herschieben. Früher oder später würde Ohlsberg sie allein erwischen, und je länger sie wartete, desto heftiger würde die Auseinandersetzung werden. Nein - trotz allem war noch ein winziger Rest von der kalten Entschlossenheit der vergangenen Horror-Nacht in ihr. Sie würde es durchstehen. Wenn es sein mußte, jetzt und hier.
Sie warf einen Blick zum Haus, um sich davon zu überzeugen, daß sie auch wirklich allein war, trat vollends aus der Scheune und überquerte mit schnellen, sehr sicheren Schritten den Hof. Swensens idiotische Spritze war jetzt auf ihrer Seite, denn sie machte sie ruhiger, als sie sonst wohl gewesen wäre, Ohlsberg würde sich wundern, wenn er glaubte, leichtes Spiel mit einer ohnehin völlig eingeschüchterten wehrlosen Frau zu haben. Sie war weder das eine noch das andere. Und sie kalkulierte sogar diese Möglichkeit ganz kalt ein:daß sie sich wirklich körperlich mit ihm auseinandersetzen mußte. Möglicherweise gehörte Ohlsberg zu der Sorte Mann, die niemals eine Frau schlugen - sie hoffte es -, aber sie gehörte ganz entschieden nicht zu der Art Frau, die Hemmungen hatte, einen Mann zu schlagen.
Sie blieb in der Auffahrt stehen - sie dachte nicht daran, den Heimvorteil zu verschenken - und blickte aufmerksam zu ihm hinüber. Er stand auf der anderen Seite des Weges, schon halb im Wald verborgen, so daß seine schwarze Jacke mit den Schatten zu verschmelzen schien, und obwohl sie sein Gesicht nicht erkennen konnte, spürte sie, daß... etwas nicht so war, wie sie erwartete. »Was wollen Sie?« fragte sie ruhig. »Uns ein wenig ausspionieren, oder mit mir reden?«
Ohlsberg bewegte sich unruhig. Er trat nicht aus dem Wald heraus, aber sie sah, wie er den Kopf drehte und einen Moment zum Haus hin überblickte.
»Stefan ist im Haus und betrinkt sich«, sagte sie kalt. Ihre Worte waren ganz bewußt verletzend. »Sie brauchen also keine Angst zu haben. Ich bin ganz allein.« Wieder bewegte sich Ohlsberg, und wieder blieb er stehen, ohne den Wald zu verlassen. Es war, als suche er Schutz zwischen den Bäumen. »Ich ... muß Sie sprechen, Frau König«, sagte er. »Sie allein. Es ist wichtig.«
»Wichtig?« Liz versuchte zu lachen, aber es gelang ihr nicht ganz. Statt verletzend zu klingen, hörte es sich selbst in ihren eigenen Ohren jämmerlich an. »Für wen, Ohlsberg? Für Sie?«
»Auch«, sagte Ohlsberg. Er klang nervös - nein, ängstlich. Wieder irrte sein Blick zum Haus, als hätte er Angst, daß jeden Moment jemand herauskommen und ihn sehen könnte. Aber Liz hatte plötzlich das sehr bestimmte Gefühl, daß es nicht Stefan war, vor dem er sich fürchtete.
»Was wollen Sie?« fragte sie noch einmal. »Ich wüßte nicht, was wir miteinander zu besprechen haben.«
»Bitte, Frau König - es ist wichtig. Ich ... (zum Teufel, er HATTE Angst! Der Mann war fast verrückt vor Angst!) ...ich dürfte nicht mit Ihnen reden, aber ich muß. Sie müssen weg hier, Sie und Ihr Mann, aber vor allem Sie.«
»Warum?« fragte Liz mißtrauisch. »Passen wir nicht ins Stadtbild?«
Ohlsberg hob die Hand, als wolle er auffahren, aber der erwartete Zornesausbruch blieb aus. Statt dessen seufzte er nur tief, schüttelte den Kopf und trat nun doch aus dem Wald heraus, wenn auch nur einen Schritt. Sie standen sich jetzt in acht oder neun Schritten Abstand gegenüber, wie zwei Duellanten.
»Worum geht es?« fragte Liz. »Um das Mädchen?«
Ohlsberg schüttelte den Kopf, dann nickte er. »Ja. Aber anders, als Sie jetzt wahrscheinlich glauben.« Er seufzte, schüttelte ein paar mal den Kopf und begann tatsächlich mit den Händen zu ringen. »Ich kann Sie ja verstehen«, sagte er. »Aber Sie müssen mir glauben, wenn ich sage, daß ich es gut mit Ihnen meine. Sie...«
»Ihnen glauben?« Liz lachte schrill. »Aber natürlich. Warum sollte ich Ihnen wohl mißtrauen, nicht?«
»Gut«, sagte Ohlsberg, »ich erkläre es Ihnen. Ich... ich versuche es wenigstens.«
»Nur zu«, sagte Liz ruhig, obwohl sie innerlich nicht mehr halb so gelassen war, wie sie sich gab. Ohlsbergs Angst war nicht gespielt. Plötzlich hatte sie das Gefühl, daß es anders war, ganz ganz anders, als sie bisher geglaubt hatte.
»Nicht hier«, sagte Ohlsberg gehetzt. »Wir treffen uns heute abend, im Ort.«
»Niemals«, antwortete Liz, und, das Wort kam so schnell und so heftig, daß Ohlsberg nicht noch einmal auf seinem Vorschlag beharrte. Er seufzte.
»Dann auf halbem Weg«, sagte er. »Kennen Sie den alten Baum, einen Kilometer vor Schwarzenmoor?«
»Die Eiche?« Natürlich kannte sie die - eine gewaltige, mehr als dreißig Meter hohe Eiche, die vor einem halben Jahrhundert einmal vom Blitz gespalten und schwarzverbrannt, aber nicht nieder gebrochen war. Ohlsberg nickte.
»Eine Stunde vor Sonnenuntergang«, sagte er hastig.
»Aber reden Sie mit niemandem darüber, nicht einmal mit Ihrem Mann - versprechen Sie mir das?«
Liz starrte ihn an. Es war völlig absurd - Ohlsberg verlangte nicht mehr und nicht weniger von ihr, als sich ihm vollkommen auszuliefern. Wenn sie tat, was er wollte, dann konnte er alles mit ihr tun - sie sogar erschlagen, wie Carry erschlagen worden war -, und niemand würde es merken. Niemand würde ihn auch nur verdächtigen! Es wäre Wahnsinn, ja zu sagen.
Und gleichzeitig waren in seinem Blick ein solcher Ernst, in seinen Worten eine solche Eindringlichkeit - und Angst! -, daß sie einfach nicht anders konnte als ihm glauben. Widerstrebend nickte sie. »Gut. Ich komme. Aber ich warne Sie. Wenn Sie irgend etwas vorhaben...«