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Sie rauchte auch diese Zigarette zu Ende, schnippte sie der ersten hinterher, dann eine dritte, vierte und fünfte, bis die Packung leer war und der Himmel einen deutlichen Stich ins Graue bekommen hatte.

Die Dämmerung kam, aber Ohlsberg nicht.

Liz wurde immer nervöser. Sie war sich selbst nicht schlüssig, ob sie Ohlsberg überhaupt sehen wollte, aber daßer nicht erschien, steigerte ihre Unruhe noch. Er war so ernst gewesen, so verdammt ernst. Wenn er nicht kam, dann bedeutete das ... Ja, was?

Liz ballte in hilflosem Zorn die Fäuste. Was war nur mit ihr los? Sie konnte nicht mehr denken, verlor den Überblick. Sie kam sich plötzlich vor wie eine Figur in einem Roman, dessen Autor den roten Faden verloren hatte. Sie tappte blindlings hierhin und dorthin, tat Dinge, die keinen Sinn zumachen schienen, und in ihrem Gedächtnis waren Lücken, nein, gewaltige Löcher, schwarz gähnende Abgründe, in die all die lebenswichtigen Dinge gefallen waren, die sie vergessen hatte. Stefanie. Etwas war mit Stefanie. Das Glas. Wein, der wie Blut über ihre Hand und ein Buch floß, eine Zahl, vielleicht ein Datum, und irgend etwas mit einer Tür, hinter der...

Großer Gott, was war das? Nicht nur die Droge. Etwas lähmte ihr Denken, etwas, das in Eversmoor war, das aber auch hier noch wirkte. Der Störsender war in Aktion, und sie war noch in seinem Bereich. Warum kam Ohlsberg nicht? Was bedeutete sein Fortbleiben? Daß er sie versetzt hatte?

Kaum. Vergessen? Das war noch unwahrscheinlicher.

Zum Teufel, sie würde es herausfinden. Jetzt.

Sie startete den Wagen, trat wütend das Gaspedal durch und schoß mit durchdrehenden Reifen los.

Aus ihrer Verärgerung wurde schiere Wut, bis sie die Stadt erreichte. Sie fuhr die Hauptstraße ganz hinab, wendete am jenseitigen Ortsausgang und parkte den Wagen vor Beldersons Laden, ohne besonderen, Grund, nur aus reiner Gewohnheit. Sie parkte immer hier. (Aber es gab sehr wohl einen Grund. Etwas war mit Belderson, das...) Ganz plötzlich fiel ihr ein, daß sie ja nicht einmal wußte, wo sie Ohlsberg suchen sollte. Sie wußte nicht, wo er wohnte, so banal war das. Eine Zeit lang blieb sie einfach dort stehen, mit laufendem Motor, die Hände so fest um das Lenkrad geklammert, als wäre es ihr letzter Halt in der Wirklichkeit. Sie beobachtete die wenigen Menschen, die auf der Straße waren. Es gab nichts Besonderes an ihnen, nichts Auffälliges, nichts außergewöhnlich Negatives oder Fremdes. Selbst ihre Kleidung unterschied sich im Grunde nicht von der der Menschen in Hamburg oder Frankfurt oder einer x-beliebigen anderen Stadt. Sicher - die Männer trugen schwere schwarze Arbeitsjacken, und die Gesichter und Hände der Frauen waren vielleicht ein wenig derber, aber diese Unterschiede waren minimal; Nuancen, mehr nicht. Und doch konnte sie die Feindseligkeit spüren, die ihr entgegen schlug. Wie eine Mauer.

Warum? dachte sie. Warum hassen mich diese Menschen? Was habe ich ihnen getan? Natürlich fand sie keine Antwort auf diese Frage. Vielleicht gab es keine. Vielleicht war das, was sie als Haß zu empfinden glaubte, nichts weiter als Vorsicht, Vorsicht, die diese Menschen ihr - oder besser gesagt der Welt, die sie repräsentierte, der Welt des Draußen, - entgegen brachten. Vielleicht hatte Stefan recht und sie unrecht, und sie mußte einen Kompromiß schließen und sich anpassen.

Aber das Wort Kompromiß, dachte sie, bedeutete nichts anderes als aufgeben. Zumindest in der Form, in der Ohlsberg es verstand. Ohlsberg. Da war etwas mit... Oh, verdammt. Sie begann schon zu vergessen, warum sie hier war! Sie mußte sich beeilen. Ihre Zeit lief ab. Der Countdown: X minus einen Tag und ein paar Stunden. Noch einmal zögerte sie. Ohlsberg hatte sie nicht hier in Schwarzenmoor treffen wollen, und er schien einen verdammt triftigen Grund dafür gehabt zu haben, aber er war nicht zum vereinbarten Treffpunkt erschienen. Vielleicht brachte sie ihn in Schwierigkeiten, wenn sie nach ihm fragte, aber verdammt noch mal, was kümmerte sie das? Außerdem brauchte sie dringend eine Zigarette.

Sie stieg aus, angelte ihre Handtasche vom Beifahrersitz und sah sich um. Die hereinbrechende Dämmerung ließ die Schatten dunkler werden und die Farben verblassen. Schwarzenmoor wirkte düsterer denn je. Zum ersten Mal glaubte sie zu wissen, woher der Ort seinen Namen hatte, zum ersten Mal sah sie ihn so, wie er vielleicht wirklich war. Alles schien ... verändert. Die niedrigen Häuser rechts und links der kopfsteingepflasterten Straße erschienen ihr noch abweisender und böser als zuvor. Zwischen den schmalbrüstigen Häusern lastete Kälte, sie konnte sie fast sehen.

Einbildung? Kaum. Es war wohl eher so, daß der Terror ihre Sinne geschärft hatte. Sie blickte jetzt hinter die Dinge, sah, was andere vielleicht nicht sahen, nicht sehr deutlich und auch noch lange nicht vollständig. Der Vorhang des Geheimnisses hatte sich nur einen Zipfel weit gelüftet. Aber was sie sah, war schrecklich genug. Sie ging in den Laden. Drinnen war es kühl, wie immer. Und schattig. Aber zum ersten Mal empfand sie diese Schatten nicht als wohltuend, sondern - wenn schon nicht als bedrohlich -, so doch zumindest als unangenehm. Etwas war hier im Raum, im Haus, in der Stadt. Etwas Finsteres.

Etwas wie das DING auf Eversmoor, nicht das Böse selbst, aber seine Ausstrahlung, wie ein übler Geruch.

»Frau König?«

Liz unterdrückte im letzten Moment einen erschrockenen Ausruf. Sie hatte Belderson nicht bemerkt, als sie den Laden betreten hatte. Nein, verdammt; sie war absolut sicher, daßer nicht dagewesen war!

»Was führt Sie zu mir, so spät? Haben Sie etwas vergessen?«

Was war das? dachte sie schaudernd. Geschäftsmäßige Freundlichkeit? Oder war da in seiner Stimme mehr, Tadel vielleicht, ein akustisches Kopfschütteln darüber, daß sie es gewagt hatte, mit den ungeschriebenen Regeln zu brechen und zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit in die Stadt zukommen?

»Ich... habe nichts vergessen«, antwortete sie nach sekundenlangem Zögern. Sie atmete hörbar ein, warf die Tür hinter sich ins Schloß und ging zur Theke. Mehr denn je erschien ihr die polierte Holz platte nicht wie ein Ladentisch, sondern wie eine Barriere, eine schmale und doch unüberwindliche Schlucht zwischen ihrer Welt und seiner. »Zigaretten«, sagte sie. »Ich brauche nur... nur eine Packung Zigaretten. Menthol, bitte.«

Beldersen blickte sie einen Moment lang ausdruckslos an, dann drehte er sich um, nahm ein Päckchen Mentholzigaretten aus dem Regal und reichte es ihr. Liz riß es auf, zog mit zitternden Fingern eines der kleinen weißen Stäbchen heraus und zündete es an. Der Rauch schmeckte nicht nach Menthol, sondern schal und bitter, die erfrischende Wirkung blieb aus. Trotzdem nahm sie einen weiteren, gierigen Zug, ehe sie sich mit einem um Verzeihung bittenden Lächeln wieder an Beldersen wandte. »Ich komme nicht, um etwas zu kaufen«, sagte sie.

»Womit kann ich Ihnen sonst helfen?« Auf Beldersons Gesicht war keinerlei Regung zu erkennen. Er lächelte freundlich, aber das tat er immer. Dieses Lächeln gehörte so zu ihm wie die schmierige braune Kittelschürze und die dünne Narbe über dem Auge. Wie seine verbrannte Hand.

»Ich... eigentlich suche ich Herrn Ohlsberg«, sagte Liz.