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Es war wieder da. Die Stimme des Ungeheuers war in ihrem Kopf, so wie beim ersten Mal. Es hatte auf sie gewartet, mit der Geduld eines Wesens, das in Jahrmillionen zurechnen gewohnt war, für das Zeit vielleicht gar keine Bedeutung hatte. Liz wartete vergeblich auf den lähmenden Schrecken, der der Erkenntnis folgen sollte. Er kam nicht. Etwas in ihr war ausgebrannt. Sie fühlte nichts.

»Was willst du?« flüsterte sie. In der Stille des Sees waren ihre Worte deutlich zu hören; sie war sicher, daß Stefan die Stimme hören mußte, aber er reagierte nicht darauf. Er sah nicht zu ihr, sondern fuhr fort, seine Kreise und Zeichen ins Wasser zu malen. Das Ritual war noch nicht zu Ende ICH HABE DIR PROPHEZEIT, DASS DU ZURÜCKKOMMEN WÜRDEST, OPFER, sagte die Stimme. ICH HATTE RECHT!

Liz schwieg. Was immer sie sagen konnte, das DING würde es vorher in ihren Gedanken lesen. Aber sie war nicht sehr sicher, daß sie überhaupt dachte, in diesem Moment.

BALD, sagte die lautlose Stimme. BALD WIRST DU MIR GEHÖREN. »Warum ... sagst du mir das?« flüsterte Liz. Ihr Blick war starr auf den See gerichtet. Sie erkannte jetzt, um was es sich bei den schwarzen Fäden handelte, die sich zwischen Stefan und dem Mädchen spannten. Nerven. Schwarze, zuckende Nerven. Das Ungeheuer war nicht im See. Es war der See.

DU SOLLST ES WISSEN, antwortete es. DU WIRST ALLES WISSEN. BALD. ICH WERDE DICH TÖTEN, ABER VORHER WIRST DU ALLES ERFAHREN, OPFER.

Und leiden, dachte Liz. Das war es, wovon es lebte. Vom Schmerz. Das Grauen seiner Opfer, die namenlose Panik, die sie überfiel, wenn sie erkennen mußten, daß ein Entkommen nicht mehr möglich war, waren sein Lebenselixier. Es hatte etwas von einer Spinne an sich, die ein Netz wob, geduldig und lautlos, ein Netz, in das sich seine Opfer mehr und mehr verstrickten, ohne es zu merken, und es saugte sie aus, labte sich an ihrem Entsetzen. Angst war seine Nahrung.

Das war die Erklärung, warum sie noch lebte. Es tötete, so erbarmungslos und sicher wie eine Naturgewalt, aber es hatte nichts davon, seine Opfer mit einem schnellen sauberen Schlag zu erlegen. Seine Beute mußte leiden, wenn das Opfer einen Sinn machen sollte. »Ist es so?« fragte sie.

Ein leises, unendlich böses, gedankliches Lachen. JA.

»Und ... war ich ... gute Nahrung?«

VORZÜGLICH. EINE DELIKATESSE. Eine kurze Pause, dann: ABER WIR SIND NOCH NICHT FERTIG MITEINANDER, SCHÄTZCHEN.

»Nenn ... mich ... nicht... so«, sagte Liz mühsam. Es fiel ihr jetzt schwer, zu sprechen. Es war albern. Und trotzdem mußte es sein. Diese wenigen Worte, dieses trotzige kindische Auflehnen gegen das Unausweichliche erschienen ihr überlebenswichtig, wichtiger als alles. Wenigstens ihre Selbstachtung sollte er ihr nicht nehmen. O DOCH, kam die Antwort auf ihren Gedanken. DAS WERDE ICH. ABER JETZT NOCH NICHT. GENIESSE DEINEN STOLZ, SOLANGE DU NOCH KANNST. »Ich ... habe keine Angst«, sagte Liz mühsam. »Was willst du mir noch tun? Es gibt nichts mehr, was...«

O DOCH, DAS GIBT ES, antwortete das DING. EINE GANZE MENGE SOGAR. »Ich werde kämpfen!« sagte Liz trotzig. »Ich werde dich vernichten, du Miststück. Ich...« Sie begann zu stottern.

Ihre Gedanken überschlugen sich. Sie redete - dachte - Unsinn. »Ich... ich werde diesen verdammten See in die Luft sprengen. Ich werde Säure hin einleiten lassen. Ich werde....« Sie brach ab, krümmte sich und begann haltlos zu schluchzen, als sie begriff, daß sie genau das tat, was das DING von ihr erwartete. Sie wäre eine fade Mahlzeit, würde sie sich nicht wehren. Trotzdem wimmerte sie: »Du hast noch nicht gewonnen, du Scheusal! Ich... ich habe Freunde, die mir helfen werden!« Keine Antwort. ES wartete. ES fraß. Sie glaubte, so etwas wie ein Schmatzen zu hören.

»Ich werde es allen sagen!« keuchte sie. »Ich ... ich werde dafür sorgen, daß man von deiner Anwesenheit erfährt. Allen werde ich es sagen. Allen, verstehst du! Sie werden dich auslöschen. Sie ... sie werden dich in kleine Gläser verpacken, und auf dem Jahrmarkt ausstellen, in kleinen Portionen. Ich ... ich werde ...«

EINE ATOMBOMBE AUF DEN SEE WERFEN? kicherte die STIMME. MACH DICH NICHT LÄCHERLICH, OPFER. DEINE FREUNDE WERDEN DIR NICHT HELFEN. ABGESEHEN DAVON, fügte sie nach einer winzigen Pause und bewußt lakonisch hinzu, DASS DU KEINE FREUNDE MEHR HAST. SIEH HINUNTER.

Gegen ihren Willen gehorchte sie.

Und schrie auf. Noch vor Augenblicken hatte sie geglaubt, die Grenzen ihrer Leidensfähigkeit erreicht zu haben, aber das stimmte nicht. Wie gestern bei Carrys Tod überschritt sie eine Grenze, aber nur, um dahinter eine weitere Facette des Grauens zu entdecken; ein Terror, der sie auf der Stelle um den Verstand und wahrscheinlich auch ums Leben gebracht hätte, hätte das DING im See sie nicht geschützt. Es half ihr;es war ein Meister der Folter, aber kein Schlächter. Es war fünftausend Millionen Jahre alt, und es hatte Erfahrung darin, die Qualen seiner Opfer zu verlängern, ohne sie zu töten. Es war ein Gourmet.

Liz kreischte vor Entsetzen, als sie das fürchterliche Bild sah, und sie konnte ganz konkret und körperlich spüren, wie ihr die Augen aus den Höhlen traten. Stefan und das Mädchen hatten aufgehört, ihre kabbalistischen Kreise zu schwimmen, und wateten an Land. Der Mond schien sehr hell, und er beleuchtete die beiden wie ein silberfarbenes Spotlicht: Etwas umgab sie. Schwarz und dünn und nervig, ein glitzerndes zuckendes Netz, großmaschig, aber nicht unterbrochen, wie schwarzes nasses Haar. Aber nicht nur sie. Es setzte sich fort, reichte in den See hinein und weiter, tiefer, eine pulsierende Nabelschnur, die die beiden mit dem unsagbaren DING im See verband und von der Wasser oder Schleim oder beides tropfte.

ODER MEINST DU VIELLEICHT DEINE NÄRRISCHE KLEINE FREUNDIN, DIE MIT DINGEN SPIELT, VON DENEN SIE NICHTS VERSTEHT?

»Nein«, wimmerte Liz. »Bitte ... nicht. Bitte... bitte...hör... auf...«

ES fraß. Es saugte sie aus, labte sich an ihrem Entsetzen, fraß ihre Lebensenergie, bis sie das Nahen des Todes spürte, und brach abrupt ab. Liz fiel keuchend auf die Knie herab und krümmte sich. O JA, DAS HÄTTE ICH FAST VERGESSEN, kicherte die STIMME in ihrem Kopf. DA IST JA NOCH EINER, DER DIR HELFEN WOLLTE, NICHT WAHR? SIEH DICH UM.

Lächerlich, sich widersetzen zu wollen. Auch sie hing in diesem schwarzen Netz, nur daß die Fäden, die ihren Geist hielten, unsichtbar waren. Sie hob den Kopf, drehte sich wimmernd herum - und schrie so gellend und laut, daß etwas in ihrer Kehle zerriß und bitteres Blut ihr Kreischen erstickte.

Es war Ohlsberg, und er war tot.

Er mußte es sein, denn jemand hatte ein Stück von seinem Kopf abgebissen. Drei Finger breit über seinen Augen war sein Schädel fort, entlang einer blutig weißen Linie säuberlich entfernt, so daß sein Gehirn sichtbar war. Es sah aus, als trüge er eine zuckende rot graue Krone. Blut, unglaubliche Mengen von Blut hatten seine Jacke schwer werden lassen, und seine Hände hatten keine Finger mehr, denn als das Etwas seinen Kopf gepackt hatte, mußte er sich an die Schläfen gegriffen haben, und es hatte sie einfach mit abgebissen.

Aber zumindest war es schnell gegangen, dachte Liz hysterisch. Er war keine Hauptmahlzeit gewesen. Ohlsberg als Aperitif, den es mit einem einzigen Schmatzen verschlungen hatte, nur den Bruchteil einer Sekunde Schmerz, wenn auch sehr viel Angst, denn er hatte gewußt, was ihn erwartete.

Dann sah sie, daß er noch lebte.

Wie eine menschengroße Puppe stand er aufrecht gegen den Baum gelehnt, stand da mit seinem halbierten Kopf und seinen abgefressenen Händen, und die Augen in seinem blutbesudelten Gesicht standen weit offen. Aber es war nicht die Totenstarre, die sie aufhielt - ihr Blick war trüb, aber nicht gebrochen, er lebte, lebte, LEBTE!!! - und starrte auf sie herab, ohne einen Laut, aber mit einem Ausdruck ungeheuerlichen Leidens in den Augen, und ließ sie wissen, daß es ihre Schuld war, was ihm angetan wurde.