Eine Sekunde, eine einzige Sekunde nur, war Liz entschlossen, einfach Gas zu geben und ihn schlichtweg über den Haufen zu fahren. Aber dann nahm sie statt dessen den Fuß von der Kupplung und drehte den Zündschlüssel wieder herum. Das grelle Halogen licht der Scheinwerfer erlosch. Dunkelheit kroch wieder in die Scheune. Stefan trat mit einem raschen Schritt neben den Wagen, beugte sich über sie und zog den Zündschlüssel vollends ab Dann richtete er sich wieder auf und ging auf Heyning zu.
»Bitte... ich ... lassen Sie mich erklären«, stotterte Peter. »Wir wollten nur...« Stefans Schlag kam völlig warnungslos. Seine Faust traf den fast zwei Köpfe kleineren und leichteren Mann in den Magen, und als er zusammenbrach, schlug Stefan ihm die gefalteten Hände in den Nacken. Heyning stieß ein würgendes, abgehacktes Keuchen aus, fiel vorn über und blieb reglos liegen.
Auch dann noch, als Stefan ihm mehrmals hintereinander mit aller Gewalt in die Rippen trat.
Endlich fiel die Lähmung von Liz ab. Sie sprang aus dem Wagen, gleichermaßen schockiert wie angeekelt von seiner Brutalität. Mit zwei, drei schnellen Schritten war sie um den Jaguar herum und kniete neben Heyning auf dem Boden. Sie versuchte ihn auf den Rücken zu drehen, aber er war schwerer, als sie erwartet hatte.
»Du... Ungeheuer!« flüsterte sie mit nur mehr mühsam beherrschter Stimme. Ihre Augen begannen sich mit Tränen zu füllen, aber sie kämpfte jetzt nicht mehr dagegen an. Heyning stöhnte leise. Er öffnete die Augen, aber sein Blick schien durch sie hindurch zugehen. Seine Augen waren glasig. Stefan hatte mit aller Kraft zugeschlagen. Sie war sicher, daß er ihm ein paar Rippen gebrochen hatte, wenn nicht mehr.
Liz bettete Peters Kopf in ihrem Schoß und strich mit einer fast zärtlichen Geste über seine Stirn. Sie fühlte sich heiß und fiebrig an. »Du hättest ihn umbringen können.« Stefan gab ein abfälliges Geräusch von sich. »Und?« fragte er.
»Warum?« murmelte Liz. Ihre Stimme streikte, und sie war sich nicht einmal sicher, ob Stefan selbst dieses Wort verstanden hatte. »Er wollte mir nur helfen.«
»Ich mag es nicht, wenn mich meine Angestellten hintergehen«, erklärte Stefan gleichmütig. »Aber du...«
»Und außerdem mag ich es nicht, wenn meine eigene Frau versucht, mich als Hampelmann hinzustellen«, fuhr er kalt fort. »Ich habe deine Launen jetzt lange genug ertragen. Ich habe dir gesagt, daß ich hier bleiben werde, bis ich es für richtig halte, wegzugehen. Ich habe dir gesagt, daß ich auf deine Hirngespinste keine Rücksicht mehr nehme. Und ich habe dir gesagt, daß es keinen Sinn hat, wenn du versuchst, die Kranke zu spielen. Du bist genauso gesund wie ich!« schrie er mit plötzlich neu aufflammender Wut. »Du bist ebensowenig verrückt wie Peter oder Ohlsberg oder irgendjemand hier, und ich habe keine Lust mehr, deine dämlichen Spielchen mitzumachen. Du verläßt diesen Hof, wenn ich es sage, und keine Sekunde eher!« Er trat drohend auf sie zu, packte sie brutal am Oberarm und riß sie auf die Füße. »Ich weiß genau, was dir fehlt!« brüllte er. »Zu Hause in Frankfurt warst du immer der Mittelpunkt, die bewunderte Partyschönheit, um die sich alles dreht! Die Frau des berühmten Schriftstellers, nicht? Aber wir sind hier nicht in Frankfurt, verstehst du? Du bist hie reine ganz normale Frau, nicht mehr und nicht weniger, und das paßt dir nicht! Deine kindischen Versuche, Aufmerksamkeit zu erregen, ziehen nicht mehr! Du bist so wenig krank wie ich!«
»Dann bin ich sehr krank«, sagte Liz ruhig. Und rammte ihm das Knie zwischen die Beine.
Stefan quietschte wie ein abgestochenes Schwein. Er krümmte sich, schnappte japsend nach Luft und wimmerte vor Schmerz.
Aber er ließ ihren Arm nicht los.
Liz versuchte mit aller Gewalt, sich loszureißen, schlug nach seinem Gesicht und stieß ein zweites Mal mit dem Knie zu, als sie nicht los kam. Aber diesmal sah er den Tritt kommen. Im letzten Moment drehte er sich zur Seite, so daß ihr Knie nur gegen seinen Hüftknochen krachte, was ihr selbst wahrscheinlich mehr weh tat als ihm. Dann schlug er zurück, nur mit der flachen Hand, aber mit entsetzlicher Kraft. Liz taumelte rücklings gegen den Wagen, fiel halb über die Kühlerhaube und glitt haltlos zu Boden. Ihre Fingernägel verursachten helle, an dünne Schreie erinnernde Laute, als sie versuchte, sich am glatten Lack des Jaguars festzuklammern, und es nicht schaffte. »Du verdammtes Miststück!« brüllte er. Sein Gesicht war grau vor Schmerz, als er auf sie zu taumelte. Liz versuchte hochzukommen, denn sie wußte, daß er sie umbringen würde, wenn er sie jetzt zu fassen bekam, aber er war schneller. Er packte sie, schleuderte sie abermals zu Boden - und griff mit einer plötzlichen, überraschenden Bewegung in ihren Ausschnitt. Das Geräusch des reißenden Stoffes schien sich wie ein glühendes Messer in Liz' Gehirn zu bohren. Sie weigerte sich einfach zu begreifen, was er tat.
Sie wehrte sich verzweifelt, aber gegen seine überlegenen Kräfte hatte sie nicht die geringste Chance. Stefan riß ihr die Kleider vom Leib, schleuderte sie zu Boden, als sie sich hochzustemmen versuchte, und stürzte sich mit einem krächzenden Schrei auf sie. »Vielleicht ist es das, was dir fehlt!« brüllte er.
Sie schrie, trat, kratzte und biß. Ihre Fingernägel krallten sich in sein Gesicht und hinterließen dünne, blutige Spuren, aber dann lockerte sie ihren Griff wieder, denn trotz der übermächtigen Panik gab es eine Angst, die noch stärker war: die verrückte Vorstellung, daß sie ihm das Gesicht herunterreißen würde, wenn sie zu fest Zugriff, und daß darunter etwas unsagbar Entsetzliches zum Vorschein kommen könnte. Nach einer Weile hörte sie ganz auf, sich zu wehren. Stefan lag schnaubend auf ihr, ein Vieh, das nun auch äußerlich jede Ähnlichkeit mit einem menschlichen Wesen zu verlieren begann: sein Gesicht war rot, hektisch aufgedunsen, und zuckte, in seinen Augen loderte Schlimmeres als der Wahnsinn, und die Laute, die er von sich gab, waren keine Töne, wie sie eine menschliche Kehle produzieren konnte.
Der Schmerz war entsetzlich. Sie hatte Angst vor Schmerzen gehabt, aber sie hatte auch nicht gewußt, daß Vergewaltigen so entsetzlich weh tat. Und dazu kam die Demütigung. Das Gefühl des Ekels, als er sich über sie warf, als sie seinen Körper auf sich spürte, sein verzerrtes Gesicht, seinen keuchenden, hektischen Atem, ein Ekel, der selbst schon beinahe die Intensität von Schmerz erreichte.
Schließlich hörte sie auf zu schreien.
42.
Sie war wieder im Schlafzimmer, aber es war kein Schlafzimmer mehr, sondern ein Gefängnis, denn der Schlüssel steckte nun von außen in der Tür, und sie war seit Stunden hier. Seit wie vielen, wußte sie nicht, aber es mußten sehr viele sein, denn draußen vor dem Fenster lag die Schwärze einer neuen Nacht. Der Tag war ihr irgendwie entglitten. Immer wieder war sie zwischendurch bewußtlos geworden. Zu Anfang hatte sie geweint; aber nicht sehr lange. Ihre Tränen waren versiegt, und ihre Augen waren jetzt trocken und taten einfach nur noch weh. Danach war Zorn gekommen : sie hatte sich gegen die Tür geworfen und mit den Fäusten dagegen gehämmert und aus Leibeskräften geschrien.
Dann - sie wußte es nicht, denn ihre Uhr war stehen geblieben, als sie gestürzt war, aber es war sehr lange nach Mitternacht - wachte sie zum letzten Mal auf; glitt hinüber von einem Alptraum in den anderen, der Wirklichkeit hieß, und sah sich um. Sie hatte Fieber. Sie hatte entsetzliche Schmerzen. Und irgend etwas in ihr war zerbrochen. Sie war nicht mehr fähig, Haß oder auch nur Furcht zu empfinden. Die Sicherung war wieder herausgesprungen, und diesmal war die Fassung geschmolzen, nichts und niemand würde sie wieder hin eindrücken können. Trotzdem war ihr Denken von einer sonderbaren Klarheit. So vieles, was sie vergessen zu haben glaubte, war plötzlich wieder in ihrem Kopf. So viele Fehler, die sie gemacht hatte, waren ihr plötzlich klar. Dann begriff sie: Der Störsender war abgeschaltet. Zum ersten Mal seit einer Woche erlaubte die Moorhexe ihr wieder, klar zu denken. Sie wollte, daß sie alles erfuhr. Litt. Sie versuchte aufzustehen, aber es gelang ihr erst beim dritten Anlauf. Die Schmerzen waren noch immer zu schlimm. Ihr Kleid und das Bett waren dunkel vom Blut, und ein ekelhaft-süßlicher Geruch hing in der Luft. Wenn sie sich bewegte, dann war es immer noch, als würde ihr ein Messer zwischen die Beine getrieben, langsam und bis in den Magen hinauf. Ab und zu wurde ihr schwindelig. Als sie das Fenster erreichte, war ihr so übel, daß sie glaubte, sich übergeben zu müssen. Ein sanfter Schrecken durch fuhr sie, als sie den Hof dunkel wie eine Schlucht unter sich liegen sah. War sie so lange hier oben gewesen? Sie wußte es nicht, aber irgendwie schien ihr die Vorstellung, daß sie einen ganzen Tag lang hier oben gelegen und geweint haben sollte, absurd. Irgendwie war ihr die Zeit entglitten. Sie erinnerte sich schwach, daß so etwas schon einmal passiert war; als sie durch den Wald gefahren war, um Peter abzuholen, vor einer Million Jahren oder so.