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Offensichtlich verlor ES die Geduld. Etwas stimmte nicht mit der Zeit, entweder wirklich oder nur für sie. Sicher, überlegte sie, was wäre einfacher, als daß ES ihr subjektives Zeitempfinden veränderte. Nicht die ganze Welt drehte sich schneller, - sie lebte in einer Zeitlupe, ein Atemzug pro Minute, eine Ewigkeit für einen Gedanken, so daß ihr das, was rings um sie herum geschah, zigmal beschleunigt vor kam. Aber diese halb wissenschaftliche (oder zumindest pseudologische) Erklärung beruhigte sie kein bißchen. Ganz im Gegenteil - welche Macht besaß diese Kreatur, wenn ihr so etwas möglich war, nur um mit ihr zu spielen? Sie stellte sich vor, wie Stefan kichernd unten in der Diele stand und mit dem Finger die Zeiger der Standuhr drehte, immer schneller und schneller, damit der Tag endlich vorbei war.

Blödsinn. Sie hatte das Bewußtsein verloren und stundenlang im Fieber da gelegen, ohne es auch nur zu merken, so einfach war das. Sie mußte aufpassen. Ihren Feind zu überschätzen konnte ebenso tödlich sein wie ihn zu unterschätzen.

Die Schmerzen in ihrem Unterleib wurden stärker. Sie blutete. Das Leben tropfte aus ihr heraus, unbarmherzig. Und das schlimmste war, daß sie wußte, daß Stefan sie nicht einfach nur vergewaltigt hatte.

Es war nicht nur tierische Gier, die aus ihm herausgebrochen war. Sein Überfall wäre so oder so gekommen, auch wenn sie ihm nicht freundlicherweise einen Anlaß gegeben hätte.

Sex war wichtig. Es war kein Zufall, daß er in den meisten barbarischen Ritualen eine so große Rolle spielte. Er hatte es tun müssen. Es gehörte dazu, so wie der Mord an Peter (sie war sehr sicher, daß er tot war) dazugehörte. Keine schwarze Messe ohne Sex, kaum eine Religion ohne Vergötterung - oder Verteufelung - des Eros. Er war Teil des Opfers, denn er war ein Bruder des Schmerzes, der der Sex der Götter war. Warum kam niemand? dachte sie. Während der letzten Tage war Eversmoor wie ein Taubenschlag gewesen - warum kam jetzt niemand, ganz gleich wer, nur irgendein Fremder, so daß sie um Hilfe rufen konnte?

Aber selbst wenn - was würde es nutzen? Stefan würde ihn genauso umbringen, wie er Peter umgebracht hatte.

Ein leises, noch sehr, sehr weit entferntes Grollen ließ sie aufsehen. Irgendwo hinter dem Wald flackerte ein blauweißer Blitz wie eine Nadel aus Licht, und fast in der gleichen Sekunde erreichten die ersten Vorboten des Gewitters den Hof: Ein einzelner Regentropfen klatschte gegen die Scheibe, gleich darauf ein zweiter, dritter... und wieder ein Donnerschlag. Das Unwetter kam sehr schnell näher. Der letzte Akt des Dramss begann, und er begann so, wie es sich für eine Geschichte wie diese gehörte. Sie sah nach oben, aber der Himmel war verschwunden. Als der nächste Blitz auf zuckte, erkannte sie eine kompakte schwarze Masse aus Wolken, die den Mond und die Sterne verschlungen hatten. War heute Vollmond? War es das, was Stefanie ihr hatte sagen wollen, als sie starb?

Sie überlegte. Nein - es war ein ganz normaler Tag, keine Werwolfnacht. Aus dem Wald kamen auch keine Vampire geflattert, um gegen das Fenster zu prallen. Die Moorhexe hatte eine Schwäche für dramatische Auftritte, aber sie war trotzdem eine gute Regisseurin; keine Gefahr, daß sie ins Kitschige ab glitt.

Dann sah sie ein anderes Licht, genauer gesagt zwei. Zuerst waren es nur Punkte, wie runde leuchtende Katzenaugen. Sie tauchten im Wald auf, verschwanden, erschienen wieder und verschwanden erneut, als sie den willkürlichen Kehren und Wendungen des Weges folgten, der sich Eversmoor näherte. Ein dumpfes Knattern wehte durch das Klatschen der Regentropfen zu Liz empor. Ein Wagen. Das war ein Wagen.

Liz versteifte sich. Jemand kam. Jemand kam mitten in der Nacht hierher, obwohl es eigentlich niemanden mehr gab, der ein Interesse daran haben dürfte. Ihre Gebete waren erhört worden.

Aufgeregt preßte sie das Gesicht gegen die Scheibe und versuchte, den näher kommenden Wagen deutlicher zuerkennen - was natürlich ganz und gar unmöglich war. Das Rauschen des immer stärker nieder prasselnden Regens verschluckte sein Motorengeräusch, und die regennasse Scheibe ließ das Licht der beiden Scheinwerfer zersplittern.

»Ich würde das nicht tun, wenn ich du wäre.«

Sie hatte nicht einmal gehört, daß er die Tür geöffnet hatte, aber Stefan stand bereits zwei Schritte hinter ihr, als sie sich herumdrehte. Sie erschrak, als sie ihn sah. Er hatte sich verändert, nicht sehr, aber auf entsetzliche Weise: dunkle, an schlecht verheilte Pockennarben erinnernde Flecken verunzierten sein Gesicht und seine Hände. Seine Lippen hingen schlaff herab, und irgend etwas stimmte mit seinen Augen nicht, ohne daß sie es genau erkennen konnte. Sein ganzes Gesicht wirkte schlaff, wie bei einem Betrunkenen. Erschien die Kontrolle über seine Muskeln zu verlieren. Ein ganz schwacher, unangenehmer Geruch ging von ihm aus.

»Was?« fragte sie mühsam.

Stefan deutete auf das Fenster. »Es ist ein bißchen zu hoch, um zu springen. Du brichst dir alle Knochen.«

Er dachte offensichtlich, daß sie aus dem Fenster klettern wollte, um zu fliehen. Liz ließ ihn in diesem Glauben. Er durfte den Wagen nicht sehen. Auf keinen Fall. So unauffällig sie konnte, drehte sie sich vollends herum und versuchte gleichzeitig, ihm die Sicht nach draußen zu versperren. Es war eine einzige Chance, erbärmlich winzig, aber es war eine Chance. Die unwiderruflich letzte, die sie bekam.

»Und?« fragte sie kalt. »Würde es dich stören?«

Stefan antwortete nicht. Seine kalten gelben Augen musterten sie abschätzend. Irgend etwas bewegte sich unter seinem rechten Auge, ein kleines körniges Ding mit vielen Beinen, das dicht unter der Haut entlang kroch. Der Anblick machte ihr kaum Angst, aber er erfüllte sie mit Ekel.

»Was willst du?« fragte sie.

Stefan deutete hinter sich. »Komm mit.«

Liz rührte sich nicht. Mit einem Mal hatte sie doch Angst, wenn auch nicht sehr viel. Ein bitterer Geschmack breitete sich in ihrem Mund aus. War er gekommen, um sie zu töten ?

»Komm mit«, sagte er noch einmal, als sie nicht reagierte. Auch seine Stimme klang verändert, ganz plötzlich. Es war noch seine Stimme, aber da war auch noch etwas anderes, als wären es in Wirklichkeit zwei Wesen, mit denen sie sprach. Sie las in seinem Blick, daß er sie mit Gewalt aus dem Zimmer schleifen würde, wenn sie jetzt nicht gehorchte. Sie mußte mit aller Macht gegen den Wunsch ankämpfen, sich herum zudrehen und aus dem Fenster zu blicken. Wo war der Wagen? Und was, dachte sie, benommen vor Schrecken, wenn er weit erfuhr, vielleicht nur ein Fremder, der sich in der Dunkelheit verfahren hatte?

Mühsam löste sie sich von ihrem Platz am Fenster und ging an Stefan vorbei. Die Schmerzen waren schlimm, aber sie konnte mit zusammengebissenen Zähnen gehen, und sie würde rennen können, wenn es sein mußte.

Stefan dirigierte sie mit leichten, aber sehr drohenden Stößen in den Rücken zur Treppe. Sie hörte jetzt Geräusche von unten. Jemand war im Wohnzimmer, und die Tür zur Küche stand einen Spalt breit offen; blasses Licht fiel heraus und zeichnete ein gelbes Dreieck auf den Boden. Ihr Blick fiel auf die Standuhr, als sie durch die Diele gingen. Es war fünf Uhr dreißig. Die Nacht war schon fast wieder zu Ende, und wieder hatte sie das Gefühl, daß ihr irgendwo etliche Stunden abhanden gekommen waren; wenn die Uhr und die Dunkelheit dort draußen nicht logen, war sie über zwanzig Stunden oben im Schlafzimmer eingesperrt gewesen. Seltsam, daß sie weder Hunger noch Durst hatte. Nur ein ganz kleines bißchen Angst, und nicht einmal Angst vor dem Tod oder dem, was er ihr antun würde, sondern die ganz profane Angst vor Schmerzen, die jedes lebende Wesen kennt, das ein Nervensystem sein eigen nennt.