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«Ich habe zu arbeiten! Hätte ich vielleicht in meiner Freizeit zur Polizei gehen sollen und…»

«So oder so hat die Polizei Ihren Namen als den eines Kunden, den man Mrs. Aschers Laden betreten sah, herausbekommen und Sie daraufhin aufgesucht. Waren die Beamten mit Ihrer Aussage zufrieden?»

«Warum sollten sie nicht?», fragte Riddell grob.

Poirot zuckte nur die Achseln.

«Sie, was wollen Sie eigentlich von mir, Mister? Gegen mich liegt überhaupt nichts vor, verstanden? Es weiß doch jeder, wer das alte Mädchen erledigt hat – ihr verdammter Mann.»

«Aber er, der Mann, war an jenem Abend nicht in der Nähe des Geschäfts, Sie hingegen schon.»

«Wollen Sie vielleicht mir die Sache anhängen, wie? Da werden Sie aber verdammt kein Glück nicht haben! Warum hätte ich die alte Ascher umbringen sollen, he? Glauben Sie vielleicht, ich hätte eine Büchse von ihrem miserablen Tabak stehlen wollen? Glauben Sie, ich sei ein Verrückter, ein blutrünstiger Mörder? Wenn Sie nicht…»

Er erhob sich drohend von seinem Stuhl. Seine Frau schrie:

«Bert, Bert! Sage doch nicht solche Dinge! Bert, man wird denken…»

«Beruhigen Sie sich, Monsieur», sagte Poirot. «Ich bitte Sie um eine Schilderung Ihres Besuchs in dem Geschäft Ascher, das ist alles. Dass Sie mir diesen Bericht verweigern, kommt mir ein wenig – sagen wir: merkwürdig vor.»

«Wer zum Teufel sagt denn, dass ich mich weigere?»

Mr. Riddell ließ sich wieder auf seinen Sitz zurückfallen.

«Mir ist das doch egal.»

«Es war sechs Uhr, als Sie den Laden betraten?»

«Stimmt – ein, zwei Minuten nach sechs, um genau zu sein. Ich wollte ein Paket Gold Flake kaufen. Als ich die Tür aufgemacht hatte…»

«War die Tür denn zu?»

«Jawohl. Glaubte schon, der Laden sei geschlossen. Aber es war noch offen. Ich ging hinein, sah keinen Menschen, klopfte auf den Tisch und wartete. Niemand kam, und so ging ich wieder. So, jetzt wissen Sie alles, und das können Sie in Ihre Pfeife stopfen und rauchen, wenn Sie wollen.»

«Sie haben also den zusammengekrümmten Leichnam hinter dem Ladentisch nicht gesehen?»

«Nein, und Sie hätten ihn wahrscheinlich auch nicht gesehen wenn Sie nicht extra danach gesucht hätten!»

«Lag irgendwo ein Fahrplan?»

«Jawohl, es lag einer auf dem Ladentisch – aber verkehrt. Dachte mir noch, dass die alte Frau vielleicht plötzlich verreisen musste und vergessen hatte, das Geschäft abzuschließen.»

«Vielleicht haben Sie den Fahrplan berührt und verschoben?»

«Ich habe nichts angefasst, verdammt noch mal! Ich habe Ihnen jetzt deutlich gesagt, was ich getan habe.»

«Und Sie haben auch niemanden aus dem Geschäft kommen sehen, bevor Sie selber eintraten?»

«Nichts und niemanden habe ich gesehen. Warum zum Teufel wollen Sie mich beschuldigen…»

Poirot erhob sich.

«Niemand beschuldigt Sie irgendeines Verbrechens – noch nicht. Bonsoir, Monsieur.»

Er ließ den Mann mit offenem Mund zurück, und ich folgte ihm. Auf der Straße sah er nach seiner Uhr.

«Wenn wir uns sehr beeilen, mein Freund, erreichen wir den Siebenuhr-Zug noch. Also los!» 

8

«Und?», fragte ich gespannt.

Wir saßen in einem Abteil erster Klasse, das wir ganz für uns allein hatten. Der Zug, ein Eilzug, hatte eben den Bahnhof Andover verlassen.

«Das Verbrechen», antwortete Poirot, «wurde von einem mittelgroßen Mann mit roten Haaren begangen, der auf dem rechten Fuß leicht hinkt und unterhalb des linken Schulterblattes ein Muttermal hat.»

«Poirot!», fuhr ich auf.

Sekundenlang war ich vollkommen verblüfft; aber dann verriet sich mein Freund durch ein schlecht kaschiertes Lächeln.

«Poirot!», rief ich noch einmal, diesmal vorwurfsvoll.

«Was wollen Sie, mon ami? Sie sehen mich mit so ergebenem Hundeblick an, dass nur eine Antwort à la Sherlock Holmes in Frage kommen kann! Um aber bei der Wahrheit zu bleiben – ich weiß weder, wie der Mörder aussieht, noch wo er lebt, noch wie wir ihn je entlarven sollen.»

«Wenn es nur irgendeinen Anhaltspunkt gäbe», murmelte ich.

«Ja, danach jagen Sie immer zuerst. Aber ach! Leider rauchte er nicht, streute keine Asche auf den Boden und trat nicht mit einem ganz besonders merkwürdig geformten Schuhnagel in lehmigen Boden… Nein, so hilfsbereit war er nicht. Aber wenigstens haben wir den Fahrplan, den ABC, der Ihnen als Leitstern dienen mag.»

«Glauben Sie, dass er den versehentlich dort liegen ließ?»

«Natürlich nicht! Der wurde absichtlich zurückgelassen. Siehe Fingerabdrücke.»

«Aber es waren ja gar keine darauf!»

«Eben. Was war gestern? Ein warmer Juniabend. Geht ein Mann an einem solchen Abend in Handschuhen spazieren? Höchstens, wenn er aufzufallen wünscht. Ergo muss der Fahrplan, da er keine Fingerabdrücke aufweist, sorgfältig abgewischt worden sein. Ein Unschuldiger hätte Fingerabdrücke zurückgelassen – ein Schuldiger nicht. Also hat unser Mörder diesen ABC absichtlich liegen lassen – aber auch das ist leider kein Anhaltspunkt für uns. Immerhin wurde dieser Fahrplan von jemandem gekauft, von jemandem hergebracht – das ist eine Möglichkeit.»

«Aus der wir irgendwelche Schlüsse ziehen können?»

«Ehrlich gesagt, Hastings, ich habe nicht sehr viel Hoffnung. Dieser Mann, dieser unbekannte X, brüstet sich ja ganz offen mit seiner Gerissenheit. Er wird uns kaum eine Spur in die Hände spielen, die wir leicht verfolgen können.»

«So dass dieser ABC-Fahrplan uns gar nichts nützt?»

«Nicht so, wie Sie meinen.»

«Aber wie?»

Poirot antwortete nicht sofort. Dann sagte er langsam:

«Wir stehen einem Unbekannten gegenüber. Er verbirgt sich im Dunkeln und will im Dunkeln bleiben. Aber es liegt in der Natur der Dinge, dass er nicht verborgen bleiben kann, sondern einmal ins Licht treten muss. Auf der einen Seite wissen wir nichts von ihm, aber auf der anderen Seite wissen wir doch schon allerhand Förderliches. Für mich nimmt er langsam Gestalt an – ein Mensch, der klare Buchstaben zu schreiben vermag, der sich teures Briefpapier kauft und der sich aus irgendeinem Grunde hervortun möchte. Ich sehe ihn als möglicherweise vernachlässigtes und zurückgesetztes Kind, im geistigen und seelischen Sinne als heranwachsenden Mann, den schwere Minderwertigkeitsgefühle plagen, die sich zu einem Hass auf alle Ungerechtigkeit steigern… Ich begreife diese innere Rastlosigkeit, den Wunsch, sich zu behaupten, die Aufmerksamkeit auf sich zu lenken – ein Wunsch, dem sich vielleicht die Umstände oder die Ereignisse entgegenstellen und ihn vereiteln, was wieder nur neue Demütigungen und neuen Hass erzeugt. Und damit ist ein Funke in ein Pulverfass gefallen…»

«Poirot, das sind doch lauter Vermutungen», warf ich ein. «Keine wirklichen Anhaltspunkte!»

«Sie ziehen das abgebrochene Streichholz, die Zigarettenasche und das Nagelmuster der Schuhe vor! Das haben Sie von jeher getan. Aber bitte, wir können uns auch einige ganz praktische Fragen vorlegen. Weshalb der ABC-Fahrplan? Weshalb Mrs. Ascher? Weshalb Andover?»

«Weshalb?!», brummte ich. «Das Leben dieser Frau scheint absolut alltäglich gewesen zu sein. Die Unterredungen mit den beiden Kunden verliefen ergebnislos. Wir haben von ihnen nichts erfahren, was wir nicht schon vorher wussten.»

«Nun, es wäre doch immerhin möglich, dass der Täter in oder bei Andover wohnt. Das würde die Frage: ‹Weshalb Andover?› beantworten. Ferner haben zwei Männer das Geschäft betreten. Sie waren beide zur fraglichen Zeit am Tatort und könnten also beide als Täter in Betracht kommen. Und vorläufig haben wir keinerlei Beweise dafür, dass nicht einer von ihnen tatsächlich der Mörder ist.»