«Vielleicht dieser riesige, brutale Kerl, dieser Riddell», stimmte ich ihm zu.
«Ach, ich habe Riddell bereits ausgeschieden. Er war so nervös, aufgebracht und offensichtlich verstört…»
«Ja, eben! Beweist das denn nicht…»
«Dass er dem Wesen nach grundverschieden ist von dem Menschen, der den ABC-Brief an mich schrieb! Wir müssen nach Selbstbeherrschung und kalter Überlegung Ausschau halten.»
«Nach jemand sehr Selbstbewusstem?»
«Gewiss, aber es gibt Menschen, die unter einem eher bescheidenen Gehaben eine gehörige Portion Eitelkeit und Machtwahn verbergen.»
«Sie glauben doch nicht vielleicht, dass der kleine Mr. Partridge…?»
«Er ist eher le type. Mehr kann man nicht sagen. Er benimmt sich genauso, wie sich der Schreiber des Briefes benehmen würde – geht sofort zur Polizei, stellt sich in den Vordergrund, genießt seine Wichtigkeit.»
«Dann glauben Sie also wirklich…?»
«Nein, Hastings, ich persönlich glaube, dass der Mörder nicht aus Andover stammt; aber wir dürfen keine Möglichkeit außer Acht lassen. Und außerdem sage ich dauernd ‹er›, während noch keineswegs erwiesen ist, dass nicht eine Frau im Spiel ist.»
«Das halte ich für ausgeschlossen!»
«Die Art des Angriffs entspricht eher einem männlichen Vorgehen, das gebe ich zu. Aber anonyme Briefe werden im Allgemeinen eher von Frauen geschrieben als von Männern. Das dürfen wir nicht vergessen.»
Ich schwieg lange Zeit. Dann fragte ich:
«Und was tun wir jetzt?»
«Mein tatendurstiger Hastings!» Poirot lächelte mir zu. «Nichts.»
«Nichts?» Ich konnte meine Enttäuschung nicht verbergen.
«Bin ich ein Zauberer? Ein Hexenmeister? Was könnte ich denn jetzt tun?»
Bei näherer Überlegung fiel mir tatsächlich auch keine Antwort ein. Dennoch war ich überzeugt davon, dass irgendetwas geschehen sollte und dass wir nicht Gras über die Angelegenheit wachsen lassen durften.
«Da ist also der Fahrplan, das Briefpapier und der Briefumschlag…», überlegte ich laut.
«Mein Lieber, diese Dinge werden eingehend untersucht. Die Polizei hat alle Mittel zur Verfügung, um derartige Nachforschungen umfassend vorzunehmen. Wenn auf dieser Linie etwas entdeckt werden kann, dann bleibt es der Polizei nicht verborgen, darauf können Sie sich blind verlassen.»
Womit ich mich zufrieden geben musste.
In den folgenden Tagen war Poirot einer Diskussion des Falles merkwürdig abgeneigt. Sobald ich mit ihm darüber zu sprechen versuchte, schob er die Angelegenheit mit einer ungeduldigen Handbewegung beiseite.
Ich glaubte, den Grund für seine abweisende Haltung genau zu durchschauen. Im Mordfall Ascher hatte Poirot eine klare Niederlage erlitten. ABC hatte ihn herausgefordert, und – ABC hatte gewonnen.
Meinen Freund, der auf eine ganze Reihe großer Erfolge zurückblicken konnte, traf dieser Fehlschlag so sehr, dass er es nicht einmal ertrug, darüber zu sprechen.
In der Zeitung erschien ein kurzer Bericht über die offizielle Leichenschau. Er war kurz gehalten und erwähnte den ABC-Brief mit keinem Wort. Das Verbrechen wirbelte nicht viel Staub auf. Der Mord in Andover an einer alten Frau wurde bald über Aufsehen erregenderen Geschehnissen vergessen.
Um die Wahrheit zu sagen: Auch in meinem Gehirn verblassten die Ereignisse. Vor allem wahrscheinlich deshalb, weil es mir widerstrebte, Poirots Namen mit einem Misserfolg in Verbindung zu bringen. Aber am dreiundzwanzigsten Juli wurde ich jäh wieder an alles erinnert.
Ich hatte Poirot ein paar Tage lang nicht gesehen, weil er übers Wochenende in Yorkshire gewesen war. Am Montagnachmittag kam er zurück, und der Brief lag bei der Sechsuhr-Post. Ich erinnere mich an den scharfen, harten Atemzug, mit dem Poirot diesen besonderen Briefumschlag aufschnitt.
«Da ist er», sagte er leise.
Ich sah ihn verständnislos an. «Wer?»
«Der zweite Akt des ABC-Trauerspiels.»
Wirklich verblüfft starrte ich ihn an. Die Sache war mir tatsächlich vollkommen entfallen gewesen. «Lesen Siel» Poirot reichte mir den Brief. Wie das erste Mal war er auf schönem Papier geschrieben.
Lieber Mr. Poirot – nun, wie steht es?
Eins zu null für mich, nicht wahr? Die Sache in Andover hat tadellos geklappt1. Aber der Spaß beginnt ja erst. Darf ich Ihre geschätzte Aufmerksamkeit auf Bexhill-on-Sea lenken?
Datum: der 25. dieses Monats.
Was haben wir doch für lustige Zeiten1.
Ihr ABC
«Großer Gott, Poirot!», rief ich. «Heißt das, dass dieser Bösewicht einen zweiten Mord plant?»
«Klar, Hastings! Was haben Sie denn erwartet? Glaubten Sie, die Andover-Sache stelle einen Einzelfall dar? Wissen Sie nicht mehr, dass ich sagte: ‹Das ist der Anfang›?»
«Aber das ist ja entsetzlich!»
«Gewiss, es ist entsetzlich.»
«Dann haben wir es ja mit einem mordlüsternen Wahnsinnigen zu tun!»
«Jawohl, Hastings.»
Seine Ruhe war eindrucksvoller, als geballte Nervosität und große Worte es hätten sein können. Ich gab ihm den Brief mit einem Schauder zurück.
Am nächsten Morgen hielten wir großen Kriegsrat ab. Der Polizeichef der Grafschaft Sussex, ein Commissioner der C. J. D. der Londoner Kriminalpolizei, Inspektor Glen aus Andover, Superintendent Carter von der Polizei Sussex, Japp und ein jüngerer Inspektor namens Crome und schließlich Dr. Thompson, der berühmte Psychiater, saßen beisammen.
Der Poststempel auf dem zweiten Brief lautete dieses Mal Hampstead; aber nach Poirots Ansicht war dem so gut wie keine Bedeutung beizumessen.
Der Fall wurde gründlich besprochen. Dr. Thompson war ein netter Mensch in mittleren Jahren und äußerte sich, trotz seiner eminenten Gelehrsamkeit, in allgemein verständlichen Worten und vermied Fachausdrücke.
«Es unterliegt gar keinem Zweifel, dass die beiden Briefe von ein und derselben Person geschrieben wurden», sagte der Commissioner.
«Richtig. Und aus diesem Grund dürfen wir einigermaßen als sicher voraussetzen, dass diese Person für den Mord in Andover verantwortlich ist.»
«Gewiss. Jetzt haben wir einen definitiven Hinweis bekommen, dass ein zweites Verbrechen am Fünfundzwanzigsten – also morgen – in Bexhill geplant ist. Welche Schritte können wir unternehmen?»
Der Polizeichef von Sussex sah seinen Untergebenen an.
«Nun, Carter, was haben Sie dazu zu sagen?»
Der Inspektor sah sorgenvoll vor sich hin.
«Das ist sehr schwierig, Sir. Wir haben nicht den leisesten Anhaltspunkt, gegen wen sich der neue Anschlag richten soll. Ich weiß also keine Antwort auf diese Frage.»
«Ich hätte einen Vorschlag», murmelte Poirot.
Aller Augen richteten sich auf ihn.
«Ich halte es für möglich, dass der Zuname des Opfers mit dem Buchstaben B beginnen könnte.»
«Das wäre wenigstens ein Anhaltspunkt», sagte der Inspektor, aber es klang nicht sehr überzeugt.
«Ein alphabetischer Komplex?» Auch Dr. Thompson schien zu zweifeln.
«Ich sage, dass dies eine Möglichkeit wäre – mehr nicht. Dieser Einfall kam mir, als ich den Namen Ascher groß und deutlich über dem Laden stehen sah, in dem die unglückliche Frau letzten Monat ermordet worden ist. Da der zweite Brief Bexhill erwähnt, dämmerte in mir die Idee auf, dass sowohl Ort wie Name des Opfers nach alphabetischen Gesichtspunkten gewählt sein könnten.»
«Das wäre möglich», sagte der Arzt. «Andererseits könnte der Name Ascher ein purer Zufall gewesen sein, und es bliebe abzuwarten, ob sich der neue Anschlag nicht wieder gegen eine alte Frau, die einen kleinen Laden führt, richtet, egal, wie sie heißt. Wir haben es, das bitte ich nicht zu vergessen, mit einem Verrückten zu tun, dessen Motive uns bis jetzt noch vollkommen schleierhaft sind.»