Poirot sah mich an. Es war ein unergründlicher Blick. Vorwiegend enthielt er eine leicht amüsierte Ungeduld. Vielleicht wollte er mich warnen, vor dem Inspektor nicht allzu offenherzig zu sprechen.
Also schwieg ich weiterhin.
In Bexhill wurden wir von Superintendent Carter erwartet. Ein junger, intelligent aussehender Inspektor namens Kelsey war mit ihm gekommen, um Crome bei der Untersuchung des Falles zur Hand zu gehen.
«Sie werden sicher Ihre eigenen Nachforschungen anstellen wollen, Crome», sagte der Superintendent. «Daher gebe ich Ihnen nur Stichworte über das bisher Erreichte, damit Sie sofort an die Arbeit gehen können.»
«Danke, Sir», antwortete Crome knapp.
«Wir haben ihren Eltern die Nachricht übermittelt. Es war ein grauenvoller Schlag für sie, begreiflich. Ich habe sie dann verlassen, damit sie sich ein wenig erholen können, also werden Sie dort ganz von vorn anfangen müssen.»
«Existieren noch andere Familienmitglieder?», fragte Poirot.
«Ja, eine Schwester der Ermordeten – Stenotypistin in London. Sie ist ebenfalls verständigt worden. Und dann ist da ein junger Mann, mit dem die Ermordete eigentlich gestern Abend hatte ausgehen wollen, soviel ich hörte.»
«Und der Fahrplan hilft uns auch nicht weiter?»
«Dort liegt er», sagte Carter und wies mit dem Kopf auf einen Tisch hin. «Keine Fingerabdrücke. Auf der Seite mit den Zügen nach Bexhill aufgeschlagen. Ein neues Exemplar, wie mir scheint. Wurde bestimmt noch nicht oft benutzt. Nicht in der Umgebung gekauft. Ich habe bei allen möglichen Verkäufern nachforschen lassen.»
«Wer hat den Leichnam entdeckt?»
«Einer unserer Freiluft-und-Frühaufsteher-Colonels, Colonel Jerome. Er ging ungefähr um sechs Uhr früh mit seinem Hund spazieren. Ging in Richtung Cooden und dann zum Strand hinunter. Der Hund rannte fort und schnupperte nach etwas. Colonel Jerome rief ihn, aber der Hund kam nicht zurück. Der Colonel ging ihm nach, weil ihm das seltsam vorkam. Entdeckte die Leiche. Verhielt sich sehr vernünftig. Rührte nichts an und verständigte uns sofort.»
«Und der Tod ist um Mitternacht eingetreten?»
«Zwischen Mitternacht und ein Uhr – soviel steht ziemlich sicher fest. Unser Mordbesessener hält wenigstens Wort. Wenn er sagt: am Fünfundzwanzigsten, dann ist es auch der Fünfundzwanzigste – wenn auch vielleicht sehr früh am Tage!»
Crome nickte. «Ja, das scheint seiner Mentalität zu entsprechen. Sonst nichts? Hat niemand etwas gesehen oder gehört?»
«Nicht dass wir wüssten. Aber es ist ja noch kaum Zeit dazu gewesen, jemanden zu verhören. Binnen kurzem werden die Zeugen aufmarschieren, die gestern Abend ein junges Mädchen mit einem Mann am Strand spazieren gehen sahen, und da gestern an die vierhundert bis fünfhundert Mädchen in Weiß mit Männern am Strand entlangspazierten, kann das heiter werden!»
«Ich werde jetzt gehen, Sir», sagte Crome. «Da ist einmal das Café und dann die Wohnung des Mädchens. Ich werde beiden einen Besuch abstatten. Kelsey kann mitkommen.»
«Und Mr. Poirot?», fragte der Superintendent.
«Ich werde Sie begleiten, Inspektor», verkündete Poirot mit einer kleinen Verbeugung.
Crome schien etwas unangenehm berührt, aber Kelsey, der Poirot noch nie gesehen hatte, grinste über das ganze Gesicht. Es war ein Verhängnis, dass alle Menschen, die meinem Freund zum ersten Mal begegneten, ihn als lächerliche Figur einschätzten.
«Was ist mit dem Gürtel, der als Mordwerkzeug diente?», fragte Crome. «Mr. Poirot scheint der Ansicht zu sein, dass er uns wertvolle Aufschlüsse geben könnte. Wahrscheinlich würde er ihn gern in Augenschein nehmen.»
«Gar nicht», fiel Poirot rasch ein. «Da haben Sie mich missverstanden.»
«Sie würden auch nichts daraus ersehen», sagte Carter.
«Es war kein Ledergürtel – auf dem eventuell Fingerabdrücke hätten zurückbleiben können –, sondern eine Art Strick aus dicker Seide – ideal für diesen Zweck!»
Mich schauderte.
«Also denn», schloss Crome die Unterhaltung, «dann wollen wir gehen.»
Unser erster Besuch galt der «Ginger Cat». Der kleine Tearoom lag zum Strand hinaus. Auf den Tischen waren orangefarbene Tischtücher ausgebreitet, und die denkbar unbequemen Rohrsessel zierten Kissen von der gleichen Farbe. Es war eines jener Cafés, die hauptsächlich Frühstück servieren und für Damen kleine, frugale Mittagessen bereithalten. Spiegeleier und Teigwaren, au gratin zum Beispiel.
Der Morgenkaffee war eben in vollem Gange. Die Geschäftsführerin lotste uns sofort in ihr ziemlich unordentliches Allerheiligstes hinter dem Geschäft.
«Miss – hm – Merrion?», fragte Crome.
Mit einer hohen, vornehm sein wollenden Stimme stieß Miss Merrion seufzend hervor: «So heiße ich. Eine traurige Angelegenheit. Schrecklich traurige Angelegenheit. Und welche Rückschläge das für unser Geschäft bedeuten kann – daran darf ich gar nicht denken.»
Miss Merrion war eine magere Frau von vierzig Jahren. Mit ihren fast orangeroten Haaren glich sie auffallend einer rötlichen Katze – dem Emblem ihres Etablissements. Sie spielte nervös mit verschiedenen Fichus und Krausen, die einen Teil ihrer Arbeitstracht ausmachten.
«Ihr Lokal wird überlaufen werden», tröstete der Inspektor. «Warten Sie nur. Sie werden Ihre vielen Kunden nicht schnell genug bedienen können.»
«Ekelhaft!», rief Miss Merrion aus. «Wirklich ekelhaft! Man könnte an den Menschen verzweifeln.»
Dennoch sah sie jetzt wieder etwas zuversichtlicher in die böse Welt.
«Was können Sie mir über das verstorbene Mädchen sagen, Miss Merrion?»
«Nichts», antwortete die Dame fest. «Absolut nichts.»
«Wie lange hat sie hier gearbeitet?»
«Den zweiten Sommer.»
«Waren Sie zufrieden mit ihr?»
«Sie war eine gute Kellnerin, anstellig und liebenswürdig.»
«Und war sie hübsch?», fragte Poirot.
Dafür erntete er nun von Miss Merrion den bewussten «O-diese-Ausländer»-Blick.
«Sie war ein nettes, adrettes Mädchen», sagte sie kühl.
«Um wie viel Uhr verließ sie gestern Abend ihren Arbeitsplatz?», fragte Crome.
«Um acht Uhr. Wir schließen um acht. Abendessen servieren wir nicht. Es besteht auch gar keine Nachfrage. Manchmal kommen vor sieben Uhr noch Leute, die Rührei und Tee bestellen» (Poirot schauderte), «aber das Hauptgeschäft ist um halb sieben vorüber.»
«Hat sie Ihnen gesagt, was sie für den Abend vorhatte?»
«Nein, natürlich nicht», lautete die entschiedene Antwort. «So freundschaftlich standen wir nicht miteinander.»
«Es kam niemand und fragte nach ihr?»
«Nein.»
«War sie so wie immer? Nicht aufgeregt oder deprimiert?»
«Das könnte ich wirklich nicht sagen», murmelte Miss Merrion ausweichend.
«Wie viele Angestellte beschäftigen Sie?»
«Normalerweise zwei, und dann noch zwei weitere während der Zeit vom zwanzigsten Juli bis Ende August.»
«War Miss Barnard eine Aushilfe?»
«Nein, Miss Barnard war eine fest angestellte Kraft.»
«Wer ist die andere?»
«Miss Higley. Eine sehr nette junge Dame.»
«War sie mit Miss Barnard befreundet?»
«Das könnte ich wirklich nicht sagen.»
«Dann werden wir besser selber mit ihr sprechen.»
«Jetzt?»
«Wenn ich bitten darf.»
«Ich werde sie hereinschicken. Aber bitte, halten Sie Miss Higley nicht länger auf als unbedingt nötig. Wir haben gerade jetzt sehr viel zu tun – Morgenkaffeezeit, verstehen Sie.»
Die katzenartige, rötliche Miss Merrion ging hinaus.
«Unsäglich fein», lachte Kelsey. Er ahmte den hohen Tonfall der Dame nach. «Das könnte ich wirklich nicht sagen.»
Ein dickliches Mädchen mit dunklen Haaren, rosigen Wangen und vor Aufregung funkelnden Kulleraugen stürzte atemlos ins Zimmer.