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«Auch uns ist die Sache leider noch gänzlich unbegreiflich – leider», sagte Inspektor Crome. «Mr. Barnard, darf ich Sie bitten, uns das Zimmer Ihrer Tochter zu zeigen? Vielleicht finden wir dort irgendetwas Aufschlussreiches… Briefe, ein Tagebuch…»

«Bitte sehr, sehen Sie sich nur um», willigte Barnard sofort ein. Er ging voran, Crome, Poirot und Kelsey folgten ihm. Ich blieb etwas zurück, weil ich mir die Schnürsenkel binden musste. Während ich das tat, hielt ein Taxi vor dem Haus, und eine junge Frau sprang heraus. Sie bezahlte und lief den Gartenweg zur Haustür entlang. Als sie eintrat und mich erblickte, blieb sie wie angewurzelt stehen. Sie war so offensichtlich erschrocken, dass ich aufmerksam wurde.

«Wer sind Sie?», fragte sie kurz.

Ich ging einige Schritte auf sie zu. Eine kurze und präzise Antwort auf diese Frage war gar nicht so einfach. Sollte ich ihr meinen Namen sagen? Oder erklären, dass ich hierher gekommen sei, um der Polizei zu helfen? Aber die junge Frau ließ mir gar keine Zeit zum Überlegen.

«Ach so», murmelte sie. «Ach, ich verstehe…»

Sie nahm das kleine weiße Mützchen ab, das sie getragen hatte, und ließ es achtlos zu Boden fallen. Dabei wandte sie sich mir zu, so dass ich ihr Gesicht nun deutlicher sehen konnte. Mein erster Eindruck von ihr war so, dass sie mich an die Holländerpuppe erinnerte, mit der meine Schwester als Kind gespielt hatte. Ihr schwarzes Haar war kurz geschnitten und hing in Fransen in eine klare Stirn. Sie hatte sehr ausgeprägte Backenknochen, und ihre ganze Figur war von einer modernen Eckigkeit, die aber keineswegs unschön wirkte. Sie war nicht hübsch – eher unauffällig –, strahlte aber so viel Kraft, so viel wache Intensität aus, dass es unmöglich war, sie zu übersehen.

«Sind Sie Miss Barnard?», fragte ich.

«Megan Barnard, ja. Sie sind im Auftrag der Polizei hier, nehme ich an.»

«Eigentlich nicht. Ich bin…» Sie fiel mir ins Wort.

«Ich glaube nicht, dass ich Ihnen etwas sagen kann. Meine Schwester war ein nettes, liebes Mädchen und pflegte keine Männerbekanntschaften. Auf Wiedersehen.» Sie lachte kurz auf und sah mich herausfordernd an. «Ist das nicht ein durchaus überzeugender Satz?»

«Ich bin kein Reporter, wenn Sie das vielleicht meinen sollten.»

«Nein? Was sind Sie denn?» Sie blickte sich um. «Und wo sind Mum und Dad?»

«Ihr Vater zeigt der Polizei das Zimmer Ihrer Schwester. Ihre Mutter ist dort drinnen. Sie ist sehr mitgenommen.»

Das Mädchen schien einen Entschluss gefasst zu haben.

«Kommen Sie», forderte sie mich auf.

Sie ging mir voran und führte mich in eine kleine, helle Küche. Ich wollte die Tür hinter mir ins Schloss ziehen, stieß aber dabei auf unerwarteten Widerstand. Poirot schlüpfte durch die Türöffnung und stand ebenfalls in der Küche.

«Mademoiselle Barnard?», fragte er mit einer Verbeugung.

«Monsieur Hercule Poirot», stellte ich vor.

Megan Barnard warf ihm einen raschen, bewundernden Blick zu. «Ich habe von Ihnen gehört. Sie sind doch dieser Privatdetektiv der feinen Gesellschaft, nicht wahr?»

«Keine sehr schmeichelhafte Bezeichnung, aber sie entspricht den Tatsachen weitgehend», sagte Poirot.

Das Mädchen setzte sich auf eine Ecke des Küchentischs und suchte in ihrer Handtasche nach Zigaretten. Sie zündete sich eine an und sagte dann zwischen zwei langen Zügen: «Eigentlich verstehe ich nicht recht, was ein Monsieur Hercule Poirot bei unserem bescheidenen kleinen Mordfall zu suchen hat.»

«Mademoiselle, was Sie nicht verstehen und was ich nicht verstehe, würde zusammengenommen vermutlich ein dickes Buch füllen. Aber das ist momentan auch gar nicht so wichtig. Wichtig ist jetzt nur eines, und das wird nicht leicht herauszufinden sein.»

«Und das wäre?»

«Der Tod, Mademoiselle, schafft unseligerweise Vorurteile. Und zwar Vorurteile zu Gunsten des Verstorbenen. Ich hörte vorhin, was Sie zu meinem Freund Hastings sagten: ‹Ein nettes, liebes Mädchen, das keine Männerbekanntschaften pflegte.› Das sagten Sie mit einer höhnischen Spitze gegen die Journalisten. Und dabei ist es durchaus richtig, dass man sich genauso über ein totes junges Mädchen äußert. ‹Sie war glücklich. Sie war heiter. Sie war sanften Gemüts. Sie hatte keine Sorgen. Sie pflegte keinerlei unerwünschten Umgang.› – Man fühlt mit Toten immer ein großes Mitleid. Wissen Sie, was ich mir in dieser Minute wünsche? Ich möchte jemanden finden, der Elizabeth Barnard kannte und nicht weiß, dass sie tot ist! Dann würde ich vielleicht erfahren, was allein mir weiterhelfen könnte: die Wahrheit.»

Megan Barnard betrachtete meinen Freund lange und nachdenklich, während sie schweigsam Rauchwolken in die Luft blies. Dann endlich sprach sie. Und was sie sagte, ließ mich zusammenfahren.

«Betty war eine dumme kleine Gans!» 

11

 Wie schon gesagt, war ich bei Megan Barnards Worten und fast noch mehr bei dem harten, sachlichen Ton, in welchem sie geäußert wurden, zusammengezuckt. Poirot hingegen beugte sich nur etwas vor.

«A la bonne heure», sagte er ernst, «Sie sind vernünftig, Mademoiselle.»

Megan Barnard fuhr im gleichen ungerührten Tone fort: «Ich habe Betty sehr lieb gehabt. Aber meine Liebe zu ihr machte mich nicht blind. Ich habe genau bemerkt, wie dumm sie sich oft benahm, und ich habe ihr das auch wiederholt ganz offen gesagt. Unter Schwestern geniert man sich ja nicht!»

«Und ließ sie sich von Ihnen raten?»

«Anscheinend nicht», sagte Megan zynisch.

«Würden Sie sich bitte deutlicher ausdrücken, Mademoiselle?»

Das Mädchen zögerte. Poirot sah sie lächelnd an.

«Ich will Ihnen helfen. Ich habe gehört, was Sie Hastings sagten. Aber das war – un peu – gefärbt, nicht wahr. Das Gegenteil davon entsprach den Tatsachen?»

«Betty war ein anständiges Mädchen», sagte Megan langsam, «das möchte ich festhalten. Sie hatte keine Weekendfreunde oder ähnliches. Aber sie ging gern aus, sie tanzte leidenschaftlich gern und – ach, alle die billigen Komplimente und Aufmerksamkeiten machten ihr viel Freude.»

«War sie hübsch?»

Diese Frage, die ich nun schon zum dritten Mal hörte, erfuhr jetzt eine praktische Antwort. Megan ging zu ihrem Köfferchen, ließ das Schloss aufschnappen und nahm etwas heraus, das sie Poirot überreichte.

Das Brustbild eines lachenden blonden Mädchens steckte in einem ledernen Fotorahmen. Helles Haar, das offensichtlich eben erst neue Dauerwellen bekommen hatte, stand in einem Wald gekräuselter Locken um den Kopf. Das Lächeln wirkte gewollt und künstlich. Kein Gesicht, das man schön nennen konnte, das aber einer billigen und bewussten Hübschheit nicht entbehrte.

Poirot gab Megan das Bild zurück.

«Sie sehen Ihrer Schwester gar nicht ähnlich, Mademoiselle.»

«Ach, ich bin das Aschenbrödel der Familie, das weiß ich seit jeher.» Diese Tatsache schien sie längst als unwichtig und unabänderlich hingenommen zu haben.

«In welcher Art genau benahm sich Ihre Schwester – hm – unklug, wie Sie sagten? Vielleicht in Bezug auf Donald Fraser?»

«Ja, allerdings! Don ist ein ruhiger Mensch, aber er – natürlich hätten ihm gewisse Dinge nicht gepasst, und dann…»

«Dann?»

Poirot sah das Mädchen unverwandt an.

Vielleicht bildete ich mir das nur ein, aber mir schien es so, als überlegte Megan eine Sekunde, was sie antworten sollte.