«Trinken Sie das, Mr. Fraser, es wird Ihnen gut tun.»
Er gehorchte. Der Kognak brachte etwas Farbe in sein Gesicht, und Fraser setzte sich gerade auf. Er wandte sich nach Megan um. Sein Auftreten war nun wieder ziemlich ruhig und beherrscht.
«Also ist es wahr? Betty ist tot – ermordet?»
«Ja, es ist wahr, Don.»
Ganz mechanisch fragte er: «Bist du jetzt gerade von London gekommen?»
«Ja. Vater hat mich angerufen.»
«Mit dem Neun-Uhr-zwanzig-Zug?»
Seine Gedanken, die vor der Wirklichkeit fliehen wollten, klammerten sich an diese unwichtigen Einzelheiten.
«Ja, mit dem Neun-Uhr-zwanzig-Zug.»
Ein, zwei Minuten lang sprach niemand ein Wort. Dann sagte Fraser: «Und die Polizei? Unternimmt sie etwas?»
«Sie sind oben und durchsuchen Bettys Zimmer.»
«Hat man keine Ahnung, wer –? Weiß man nicht…»
Er brach ab. Wie allen sensiblen, scheuen Menschen widerstrebte es ihm, grausame Tatsachen in Worte zu fassen.
Poirot trat neben den jungen Mann und stellte eine Frage, stellte sie so beiläufig und fast wie gedankenlos, als handelte es sich dabei um ein ganz nebensächliches Detail.
«Hat Miss Barnard Ihnen gesagt, wohin sie gestern Abend gehen wollte?»
Fraser antwortete in derselben Art – gleichsam geistesabwesend.
«Sie sagte, dass sie mit einer Freundin nach St. Leonards gehen wollte.»
«Und glaubten Sie das?»
«Ich –» Plötzlich erwachte der Automat zum Leben.
«Was zum Teufel wollen Sie damit sagen?»
Sein drohender Ausdruck, die aufgewühlte Leidenschaft, die mit einem Schlag aus seinen Blicken sprach, machte es mir begreiflich, dass ein Mädchen sich davor fürchten konnte, seinen Zorn hervorzurufen.
«Betty Barnard ist von einem Geisteskranken getötet worden», sagte Poirot scharf, «und nur, indem Sie uns die absolute Wahrheit sagen, können Sie uns helfen, seine Spur zu finden!»
Fraser sah Megan groß an.
«Es stimmt, Don. Es ist jetzt nicht die Zeit, auf seine eigenen oder die Gefühle anderer Rücksicht zu nehmen. Du musst ihnen ehrlich Auskunft geben.»
Donald Fraser warf Poirot einen misstrauischen Blick zu.
«Wer sind Sie überhaupt? Gehören Sie zur Polizei?»
«Ich stehe über der Polizei.» Das erklärte Poirot ohne die geringste bewusste Arroganz. In seinen Augen war diese Feststellung eine klare Tatsache.
«Rede», ermutigte Megan den jungen Mann noch einmal.
Donald Fraser schien nachzudenken.
«Ich… weiß nicht recht», begann er zögernd. «Ich war nicht sicher. Als sie es mir sagte, glaubte ich ihr. Zweifel wären mir gar nie in den Sinn gekommen. Aber dann – vielleicht spürte ich irgendetwas in ihrem Benehmen… Jedenfalls begann ich mich zu fragen…»
«Was?», fragte Poirot.
Er setzte sich dem jungen Mann gegenüber und sah ihm in die Augen, als wollte er ihn hypnotisieren.
«Ich schämte mich, so misstrauisch zu sein. Aber ich war eben misstrauisch. Ich wollte sogar zum Café gehen und irgendwo warten, bis sie herauskam. Ich ging auch wirklich hin. Aber dann fühlte ich, dass das doch nicht gut war. Betty hätte mich sehen können, und sie wäre bestimmt böse geworden, wenn sie bemerkt hätte, dass ich ihr nachspioniere.»
«Was also taten Sie?»
«Ich fuhr nach St. Leonards. Um acht Uhr war ich dort. Dann sah ich alle Autobusse ankommen und passte auf, ob sie aus einem aussteigen würde. Aber sie erschien nicht.
Schließlich verlor ich einfach den Kopf. Ich redete mir ein, dass sie mit einem Mann ausgegangen und wahrscheinlich nach Hastings gefahren sei. Ich fuhr dorthin, ging durch alle Restaurants, stand vor allen Kinos herum und schlenderte über den Hafendamm. Blödsinnig! Sogar wenn sie in Hastings gewesen wäre, hätte ich sie unmöglich finden können. Und überhaupt waren ja die beiden vielleicht ganz woanders hingefahren.»
Er unterbrach sich. Wie ausgeglichen sein Ton auch geklungen hatte, ich spürte doch die Verzweiflung und das bittere Weh, das ihm zu jenem Zeitpunkt das Herz zerrissen haben musste.
«Nun, und dann gab ich es auf und kam hierher zurück.»
«Um wie viel Uhr?»
«Das weiß ich nicht… Ich ging den ganzen Weg zu Fuß, also muss es bereits Mitternacht gewesen sein, als ich daheim ankam.»
Die Küchentür wurde schwungvoll aufgerissen.
«Ach, hier sind Sie», sagte Kelsey erstaunt.
Crome drängte sich an ihm vorbei, sah Poirot und die beiden Unbekannten scharf an.
«Miss Megan Barnard – Mr. Donald Fraser», stellte Poirot höflich vor. «Dies ist Inspektor Crome aus London.»
Dann wandte er sich wieder Crome zu.
«Während Sie oben Ihre Untersuchung anstellten, habe ich hier unten mit Miss Barnard und Mr. Fraser gesprochen in der Hoffnung, irgendetwas zu erfahren, was Licht in die ganze Angelegenheit bringen könnte.»
«So?» Inspektor Crome schien nicht zuzuhören, was Poirot sagte, sondern seine Aufmerksamkeit ungeteilt den beiden Neuankömmlingen zuzuwenden. Poirot zog sich in den Korridor zurück. Als er an Kelsey vorbeikam, fragte der junge Beamte höflich:
«Und? Haben Sie etwas herausbekommen?» Aber da wurde sein Interesse von seinem Kollegen abgelenkt, und er wartete Poirots Antwort gar nicht ab.
Ich ging Poirot nach.
«Ist Ihnen etwas Besonderes aufgefallen, Poirot?»
«Nur die erstaunliche Großmut des Mörders, Hastings.»
Ich hatte nicht den Mut, ihm zu gestehen, dass ich nicht im Entferntesten begriff, was er damit sagen wollte.
13
Konferenzen!
In meiner Erinnerung lebt der ABC-Fall als eine Anhäufung von Konferenzen fort!
Konferenzen in Scotland Yard. In Poirots Wohnung. Offizielle Konferenzen. Private Konferenzen.
Diese besondere Konferenz galt dem Beschluss, ob man die mit den anonymen Briefen zusammenhängenden Tatsachen in den Zeitungen veröffentlichen sollte oder nicht. Der Mord in Bexhill hatte viel mehr Staub aufgewirbelt als der von Andover. Er war ja auch tatsächlich dazu angetan, eine breitere Öffentlichkeit zu interessieren. Erstens war das Opfer ein junges, hübsches Mädchen, und zweitens hatte er in einem bekannten, viel besuchten Badeort stattgefunden.
Jede Einzelheit des Verbrechens wurde ungekürzt in allen Zeitungen breit getreten; täglich tauchten neue Vermutungen auf, die ebenfalls analysiert und gedeutet wurden. Der ABC-Fahrplan spielte eine wesentliche Rolle in diesen Artikeln. Die beliebteste Theorie war die, dass er in Bexhill selber gekauft worden sei und dass diese Tatsache wertvolle Schlüsse über die Person des Täters zulasse. Auch beweise sie, dass der Mörder per Zug gekommen sei und beabsichtigt habe, nach London zu reisen. Da der Fahrplan in den mageren Berichten über den Mord in Andover nicht erwähnt worden war, lag es kaum nahe, dass die öffentliche Meinung die beiden Verbrechen miteinander in Verbindung bringen würde.
«Wir müssen uns zu einem Vorgehen entschließen», sagte Sir Lionel, der Commissioner der Londoner Kriminalpolizei. «Die Frage ist nur, auf welche Weise wir die besten Resultate erzielen. Sollen wir der Öffentlichkeit alle uns bekannten Tatsachen mitteilen, sie zur Mitarbeit auffordern, um nach dem Geisteskranken zu suchen…»
«Der notabene keineswegs wie ein solcher aussehen wird», warf Dr. Thompson ein.
«… um nach Verkäufen von ABC-Fahrplänen zu forschen und so weiter und so weiter? Demgegenüber würde es einen unbedingten Vorteil bedeuten, sich bedeckt zu halten, unbemerkt weiterzuarbeiten und unseren Mann nicht wissen zu lassen, worauf wir aus sind. Andrerseits weiß er natürlich ganz genau, dass wir manches wissen. Er hat ja schließlich selber die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt, indem er diese Briefe schrieb… Nun, Crome, was sagen Sie dazu?»
«Ich betrachte die Sache so, Sir: Wenn Sie die Angelegenheit publik machen, kommen Sie ABC entgegen, denn das ist es ja gerade, was er sucht – Aufsehen, Berühmtheit. Nur daran ist ihm gelegen. Glauben Sie nicht auch, Doktor?»